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Bei der Bundeskanzlerin konnte jeder mithören

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Bei der Bundeskanzlerin konnte jeder mithören

Kanzlerin Merkel kommuniziert oft über ein nicht verschlüsseltes Handy. Jeder Hobbyfunker hätte da mithören können. Die Geheimdienste tun es sowieso.

Von R. Alexander, D. Banse, M. Bewarder, J. Eigendorf, B. Fuest, M. Lutz, J.Meinert, L.-M. Nagel

Die weißen Ballons, die am Tagungsort St. Petersburg gut 15 Meter aufgestiegen waren, konnten misstrauisch machen. In der Delegation rund um Angela Merkel mutmaßte mancher im Sommer 2006, was das bedeuten könnte.

Vielleicht steckte der Geheimdienst dahinter, um mitzubekommen, was sich unten am Boden abspielte? Hatten nicht die Sicherheitskreise in Deutschland noch vor dem Gipfel der Wirtschaftsnationen G 8 auf die Spionagefähigkeiten des russischen Geheimdienstes hingewiesen?

Der Rat der Experten lautete deshalb, die Handys zu Hause zu lassen. Vertrauliche Gespräche könnten überwacht werden, und es wäre ein Leichtes, jeden Teilnehmer bis nach ganz oben jederzeit zu orten. Und so hielten sich einige Delegationsmitglieder tatsächlich an den Rat. Sie packten Ersatzhandys ein. Für die Sicherheit der Bundesrepublik war dies nicht zu viel verlangt.

Beim ersten großen Gipfel der Merkel-Administration hielt man sich offensichtlich an die Regeln. Hätte man ähnliche Ratschläge anschließend auch im eigenen Land befolgt, dann gäbe es nun wohl nicht die Handy-Affäre, die das Land seit ein paar Tagen in Wallung bringt.

Empörung quer durch alle Fraktionen

Seit am Mittwochabend bekannt wurde, dass der amerikanische Geheimdienst NSA sogar die Kanzlerin abgehört hat, sind Politiker quer durch die Fraktionen in Berlin empört. Das freilich nicht über die Kanzlerin, sondern über die vermeintlichen Freunde jenseits des Atlantiks.

Der “Spiegel” berichtete nun sogar, dass Merkel anscheinend bereits seit 2002 Aufklärungsziel gewesen sein könnte. Der Ausspäh-Auftrag sei offenbar bis kurz vor Obamas Berlin-Besuch im Juni gültig gewesen.

Von einer “völlig neuen Qualität” und einem “schweren Vertrauensbruch” sprach in dieser Woche auf einmal Kanzleramtsminister Ronald Pofalla, der zuvor die Affäre um die Enthüllungen des ehemaligen NSA-Mitarbeiters Edward Snowden runtergespielt hatte.

Auch Bundespräsident Joachim Gauck schaltete sich ein und forderte vom amerikanischen Präsidenten Barack Obama eine Erklärung, wie dieser das verloren gegangene Vertrauen zurückgewinnen wolle.

Angesichts der Aufregung in den eigenen Reihen vor dem Russland-Gipfel scheint es gerade absurd, was sich über viele Jahre im eigenen Land tagtäglich abgespielt hat. Offenbar unbekümmert kommunizierte die Bundeskanzlerin vom ersten Tag ihrer Kanzlerschaft auf einem Handy, das völlig ungesichert war. Ein Gerät älterer Bauart, das sie schon als Parteichefin genutzt hatte, machte sie zum Kanzlerinnen-Handy. Ohne besondere Schutzvorrichtung. Leichte Beute nicht nur für Geheimdienste sondern selbst für Laien.

Jeder hätte theoretisch mithören können

Theoretisch hätte jeder mit ein bisschen technischem Geschick mitschneiden und -hören können, was die Kanzlerin mit Politikern, Beratern und Managern über ihr Standardhandy bespricht. Oder per SMS verschickt, was sie besonders gern tut. Bis in dieses Jahr hinein telefonierte sie mit einem Nokia der 60er-Baureihe.

Im Kanzleramt wird man geahnt haben, dass auch der ungesicherte Telefonverkehr der sonst so vorsichtigen Kanzlerin das Potenzial zu einem Skandal hat. Entsprechend versuchte man von Anfang an, nicht die Abhöraktion an sich, wohl aber das damit verbundene Sicherheitsrisiko herunterzuspielen. Zunächst hieß es, Merkels altes Handy mit der Sicherheitssoftware der Firma Secusmart sei betroffen. Doch um das ging es gar nicht.

Die Sache klang noch harmloser, als dann vom Parteihandy die Rede war – so als würde die Kanzlerin verschiedene Handys für Regierungsmitglieder, Parteifreunde und sonstige Gesprächspartner mit sich herumschleppen und dann immer gerade das passende aus ihrer Handtasche kramen. Merkels Kommunikationswege seien “absolut sicher”, sagte ein Regierungssprecher noch am Freitag in Berlin. Mag sein, nur nutzt sie die sicheren Wege nicht so oft.

Ihr Kommunikationsverhalten lässt sich nicht ändern

Das wissen alle, die mit ihr eng zusammenarbeiten. Selten, nur ganz selten käme es zu Gesprächen mit dem Kryptohandy, dem verschlüsselten Gerät also, sagt einer, der es wissen muss. Für diese Erkenntnis braucht es allerdings auch keine Tiefenrecherche. Denn das machte die Kanzlerin am Freitag selbst klar. “Deshalb benutze ich ein Handy”, sagte sie am Freitagmorgen mit der Betonung auf das Wort “ein”, “das auf das Konto der Partei läuft, damit ja nie der Eindruck entsteht, ich würde Regierungsgelder für Parteikommunikation verwenden.”

Und dann gab Merkel noch unverhohlen zu, dass sie ihr Kommunikationsverhalten nicht verändert habe – trotz der Abhörpraktiken, die der frühere amerikanische Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden ans Tageslicht gebracht hatte: “Ich habe eine…konsistente Logik meiner Gespräche. Deshalb glaube ich, dass jeder, der mit mir redet, im Grundsatz immer das Gleiche hört.”

Es scheint also ziemlich langweilig zu sein, wenn man der Kanzlerin zuhört. Und sowieso, Sicherheitsrelevantes habe sie nie über ihr gewöhnliches Handy besprochen, sagte sie selbst. Wobei man sich fragt, was sie verschickt und erzählt angesichts der vielen Fotos und Videoaufnahmen, die von einer für einen Regierungschef ungewöhnliche Vorliebe für ihr mobiles Endgerät zeugen.

Wer die Nummern kennt, kann viel abschöpfen

Es ist eine gigantische Verniedlichung der Realitäten: Fakt ist, dass Angela Merkel sehr viel über ihr gewöhnliches Handy telefoniert und dass mithört, wer mithören will: “Es gibt in Berlins Mitte tausende Gesprächsverbindungen”, sagt Marcel Dickow von der Stiftung Politik und Wissenschaft in Berlin. “Aber wenn man die richtigen Nummern kennt, kann man auch viel abschöpfen. Was genau passiert, weiß aber niemand.”

Worauf der Sicherheitsexperte und Wissenschaftler hinaus will, ist die zentrale Lage des Kanzleramts und die Gewohnheit der Regierenden, nicht verschlüsselt zu sprechen und Daten zu versenden. Denn nicht weit vom Regierungsbezirk sind die Botschaften. Und deren Dächer eignen sich hervorragend dafür, entsprechende Abhöreinrichtungen zu installieren, ohne dass sie von außen identifizierbar wären. So wie es die Amerikaner gemacht haben: Sie haben Merkel offenbar vom Gelände der US-Botschaft direkt am Brandenburger Tor und nicht weit vom Kanzleramt aus abgehört – was angesichts Merkels Handy-Verhalten auch Sinn ergibt.

Lauschposten mitten in Berlin

Und nicht nur die Amerikaner lauschen mit. Die deutschen Sicherheitsbehörden verfügen nach Informationen der “Welt am Sonntag” über Erkenntnisse, wonach aus mehreren Botschaften in Berlin Kommunikation im großen Umfang abgefangen wird. Neben der Botschaft der USA gelten die Ländervertretungen von Russland und China als wichtige Lauschposten. Speziell ausgebildete Spione arbeiten in den Botschaften. “Es ist für die Spionageabwehr schlichtweg nicht möglich, Abhörmaßnahmen im Detail zu erkennen und zu stören”, sagte ein hochrangiger Nachrichtendienstler der “Welt am Sonntag”. Dafür sei die Lauschtechnik zu weit entwickelt.

Dabei ist nicht wirklich die Frage, ob die sonst so übervorsichtige Merkel sich am Telefon verplappert und irgendwelche Staatsgeheimnisse ausgeplaudert hat. Derartiges mithören zu können, war wohl auch gar nicht die Erwartung der US-Späher. Ob die Verhandlungen um Opel nach der Pleite von General Motors im Sommer 2009 oder die inzwischen mehr als fünf Jahre andauernde Finanzkrise: Jede, manchmal auch noch so banal erscheinende Kleinigkeit dürfte da interessant gewesen sein, auch wenn es sich nur kurzfristig um etwas Brisantes handelte.

Das bestätigte erst im September der US-Geheimdienstdirektor James Clapper: Natürlich sammele die Geheimdienstgemeinschaft “Informationen über alle Wirtschafts- und Finanzangelegenheiten” Dies ermögliche den USA, früh Warnungen vor möglichen internationalen Finanzkrisen zu erhalten. Informationen über die Wirtschaftspolitik anderer Länder könnten helfen, die globale Wirtschaftsmärkte zu beeinflussen.

Noch wichtiger ist Merkels Netzwerk

Nun ist es kaum vorstellbar, dass die Kanzlerin gerade in kritischen Situationen nicht immer wieder mal ihr Handy zur schnellen Absprache nutzt. Dabei dürfte es den Geheimdiensten nicht nur darum gehen, was sie sagt. Viel wichtiger noch ist Merkels Netzwerk. Mit wem spricht sie wie häufig? Was schickt sie wann an wen? Und welche Telefonnummern haben diese Gesprächspartner? “Spannender für die Geheimdienste sind die ungesicherten Metadaten”, sagt Sicherheitsexperte Dickow.

“Die kann man auch bei den verschlüsselten Telefonaten mitschneiden. Das heißt, sie könnten wissen, mit wem Merkel telefoniert hat und wer zu ihrem Netzwerk gehört.” Noch gruseliger wird das vor dem Hintergrund, dass nicht nur die Geheimdienste, sondern auch Laien problemlos bei den Gesprächen der Kanzlerin dabei sein können. Die einfachste und unauffälligste wäre ein manipuliertes Mobiltelefon, das wie ein Kescher eingesetzt wird und die Gesprächsdaten aufzeichnet.

Die Möglichkeiten des “IMSI-Catchers”

Eine weitere Möglichkeit ist ein Gerät, klein wie ein Schuhkarton, von den Spezialisten “IMSI-Catcher” genannt. Die Bestandteile samt Bauanleitung lassen sich im Internet bestellen, Hobbyfunker können die Komponenten in wenigen Stunden zusammensetzen. Diese in Deutschland verbotene Technik imitiert einen Funkmast. Auf diese Weise ist der Lauscher zwischen Sender und Empfänger geschaltet und ermöglicht Kommunikation in beide Richtungen, ohne dass die Teilnehmer etwas von Mithörern ahnen. Die Gespräche lassen sich sogar live verfolgen.

Die Reichweite dieser Abhörvorrichtungen ist bei Experten umstritten. Mehrere hundert Meter sind es auf jeden Fall. Mobil gelagert, etwa unter einer kleinen Drohne, sind auch mehrere Kilometer denkbar. Der “IMSI-Catcher” hat nur einen Nachteil: Früher oder später fällt dem Mobilfunkbetreiber auf, dass es einen Funkmast zu viel gibt. Normalerweise braucht es sechs bis zwölf Stunden dafür. Es gibt noch weitere Geräte und Tricks – was so weit gehen kann, dass das ungesicherte Kanzlerinnen-Handy als Wanze gedient haben könnte. Dafür hätte sie sich allerdings eine Schadsoftware mit dem Handy einfangen müssen.

All das ist den Sicherheitsbehörden natürlich bekannt. Sie setzen den “IMSI-Catcher” seit 2002 selbst ein. Wohl auch deswegen hat das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), das die Bundesregierung und ihre Behörden vor Angriffen aller Art schützen soll, strenge Empfehlungen ausgesprochen. So rät das BSI der gesamten Bundesverwaltung, Gespräche mit Verschlusssachen bis zum Geheimhaltungsgrad “VS – Nur für den Dienstgebrauch” ausschließlich über verschlüsselte Handys zu führen.

Mit wenig Aufwand abhörbar

In einem Feldtest hatte das BSI im vergangenen Jahr festgestellt, dass schnurlose Telefone im Regierungsviertel noch auf einer Entfernung von 600 Metern abgehört werden konnten, und das mit geringem technischen Aufwand. Bereits seit März 2006 gibt es eine “Anweisung” des Bundesinnenministeriums für geheime Verschlusssachen, die für die gesamte Bundesregierung gilt: “Personen, die zum Zugang zu Verschlusssachen ermächtigt sind”, sei der Betrieb “privater Informationstechnik und mobilen Telekommunikations-Endgeräten (dies sind zum Beispiel Mobiltelefone) am Arbeitsplatz grundsätzlich untersagt.” Das ist eindeutig formuliert: Als “privat” in diesem Sinne kann wohl alles bezeichnet werden, was nicht offiziell vom BSI als sicher eingestuft ist. Sprich auch Merkels Handy.

Doch warum hält sich die Kanzlerin nicht daran? Hätten die Dienste einschreiten müssen? Oder ist die Kanzlerin schlicht nachlässig?

Das Bundeskanzleramt interpretiert die Anweisung anders: “Das von der ‘Welt am Sonntag’ ziterte Verbot (Abs. 3) will die Verschlusssachen vor Vervielfältigung oder unbefugter Weitergabe mit technischen Gerät möglichst umfassend schützen”, sagte ein Regierungssprecher auf Anfrage. “Die Bundeskanzlerin beachtet, soweit sie mit Inhalten von Verschlusssachen befasst ist, strikt die bestehenden Regelungen und kommuniziert nicht über offene Verbindungen.”

Fakt ist, dass für die Spionageabwehr das Kommunikationsverhalten der Kanzlerin ein Albtraum ist. Die Sicherheitsbehörden haben sowohl die Regierungschefin als auch die Minister mehrfach darauf hingewiesen, wie leicht es ist, Handys ohne verschlüsselte Technologie abzuhören. Mitarbeiter bestätigen, dass Kommunikationssicherheit wie damals im Fall Russland immer wieder Thema war. “Doch niemand kann der Kanzlerin vorschreiben, wie sie kommunizieren soll. Das entscheidet am Ende sie”, sagte ein Nachrichtendienstler der “Welt am Sonntag”. Und ein Berater sagt: “Sie können der Kanzlerin einmal etwas empfehlen. Aber nicht dreimal.”

Bequemlichkeit und Schnelligkeit

Mit Ignoranz hat diese Fahrlässigkeit der Kanzlerin nichts zu tun. Es liegt wohl eher daran, dass sie in der Vergangenheit weder die Geduld noch die Zeit hatte, um ständig ihr verschlüsseltes Handy zu benutzen. Das würde auch nur dann etwas bringen, wenn auch der Gesprächspartner ein Kryptohandy nutzt. Entsprechend groß ist das Verständnis in den eigenen Reihen für die Chefin. “Die Kanzlerin könnte ihr mörderisches Arbeitspensum nicht schaffen, wenn sie beim Telefonieren jedes Mal den sichersten Weg wählen würde. Bequemlichkeit und Schnelligkeit haben deshalb verständlicherweise Vorrang vor Sicherheitsaspekten”, sagte CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl der “Welt am Sonntag”.

So gibt es auch innerhalb der Bundesregierung einen Wildwuchs in der Handy-Praxis, wie eine Umfrage der “Welt am Sonntag” zeigt. Zwar bekräftigen Politiker wie Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), über “modernste Verschlüsselungstechnik” zu verfügen. Doch niemand wollte sich dazu bekennen, diese auch intensiv zu benutzen. Der scheidende Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) tat besonders geheimnisvoll und wollte aus “Sicherheitsgründen” nicht mitteilen, welches Mobiltelefon er derzeit verwendet. Dabei hatte der Vizekanzler, der bekanntlich ein iPhone benutzt, noch im Mai während einer Reise ins amerikanische Silicon Valley zugegeben: “Jeder weiß, dass wir unsere privaten Telefone benutzen, obwohl es verboten ist.”

In Deutschland hingegen blieb jegliche Empörung über derartigen Verstoß gegen die Dienstvorschriften aus. Dann darf es aber auch nicht überraschen, dass Regierungen in Washington, Moskau oder Peking sehr genau darüber Bescheid wissen, was die deutsche politische Elite gerade so umtreibt. Und es wäre ein Wunder, wenn Merkel das einzige Mitglied der Bundesregierung ist, das sich in den NSA-Akten des Edward Snowden wiederfindet.

Allzu achtlos ist man in Berlin

Einen einfachen und praktikablen Ausweg aus dieser prekären Situation gibt es nicht. Allzu achtlos ist man in Berlin, viel zu gering die Sensibilität. Das könnte sich mit der neuen, komfortablen Handygeräten ändern, die inzwischen an Kabinettsmitglieder verteilt werden.

Vielleicht sollte sich Angela Merkel aber auch noch mal an ihren politischen Ziehvater erinnern: Helmut Kohl. Der ließ seine Kommunikation nicht durch besonders smarte Software sichern, die gab es damals noch gar nicht, sondern durch ein Marmeladenglas. Das leere Glas stand in der Küche des Ehepaares Eckhard und Hilde Seeber, und immer, wenn Hilde vom Einkaufen nach Hause kam, steckte sie das Wechselgeld in das Glas.

Wenn Ehemann Eckhard zur Arbeit ging, nahm er sich Groschen aus dem Glas. Denn Seeber war der Fahrer des Bundeskanzlers. Und der fuhr seinen Chef im S-Klasse-Mercedes mit Autotelefon immer wieder mal übers Land, wenn der wichtige Telefonate führte. Am Rhein entlang, durchs bergische Land oder sogar bis in die Eifel. Irgendwann sagte Kohl “Ecki halt mal.” Die beiden Männer duzten sich, wenn sie im Wagen allein waren. “Hier Helmut”, sagte der Seeber dann und gab dem Kanzler die Groschen aus dem Einmachglas in der Küche seiner Frau.

Man muss sich den Kanzler der Einheit stehend in einer einsamen Telefonzelle irgendwo im Regen vorstellen. Sicher zur hektischen Krisenpolitik des 21. Jahrhunderts will das nicht so recht passen. Aber eine Bundeskanzlerin muss vorsichtiger sein. Denn wenn sie telefoniert, geht es schließlich nicht um Kochrezepte, sondern sehr oft ums Land.

Der Artikel auf welt.de

Streng vertraulich! Das WELT Investigativ Blog


“Berlin ist europäische Hauptstadt der Agenten”

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“Berlin ist europäische Hauptstadt der Agenten”

Nicht nur die USA spionieren in Berlin die Deutschen aus. Auch Frankreich und China stehen unter Verdacht. In kaum einer anderen Stadt gibt es mehr Spione. Der Verfassungsschutz ist machtlos.

Von Dirk Banse, Florian Flade und Martin Lutz

Es war eine Bitte, die man eigentlich nicht abschlagen konnte. Schon gar nicht unter Freunden. Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), schickte am vergangenen Dienstag eine ungewöhnliche Anfrage über den Atlantik. Der Empfänger: die National Security Agency, jener amerikanische Geheimdienst also, der seit Monaten wegen seiner globalen Ausspähpraktiken in der Kritik steht. Maaßen hatte ein dringendes Anliegen: Er wollte die Räume der US-Botschaft in Berlin von Verfassungsschützern inspizieren lassen.

Die Antwort auf die vertrauliche Anfrage kam nicht postwendend, sondern noch schneller. Und zwar öffentlich, aus dem Mund des US-Botschafters in Berlin. Auf die Frage eines Journalisten, ob deutsche Ermittler die Botschaft auf Spionage-Technik kontrollieren dürften, sagte John Emerson am Donnerstag knapp: “Nein.”

Die Reaktion zeigt einmal mehr die Machtlosigkeit des deutschen Verfassungsschutzes, der unter anderem für die Spionageabwehr zuständig ist. Aus ihrer Botschaft am Brandenburger Tor sollen die Amerikaner jahrelang das Mobiltelefon der Kanzlerin abgehört haben. Spionage im Herzen der deutschen Politik – mitten im Freundesland, unter den Augen des Verfassungsschutzes.

Entsprechend laut wird nun die Kritik am Inlandsnachrichtendienst. Warum konnte er nicht verhindern, dass Angela Merkels Handy ausgespäht wird? Wer schützt den Regierungsapparat vor solchen Aktionen? Weshalb können ausländische Geheimdienste nahezu ungehindert aus Botschaften heraus spionieren?

Abhöranlagen von außen nicht sichtbar

Erstmals äußert sich jetzt der Chef der Spionageabwehr öffentlich. Er stellt sich vor seine Mitarbeiter. “Das Abhören aus den Botschaften und anderen Gebäuden heraus kann die Spionageabwehr nicht verhindern”, sagte Burkhard Even der “Welt am Sonntag”. Der langjährige Abteilungsleiter im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz begründet das so: “Inwieweit und zu welchem Zweck vorhandene Technik in den Botschaftsgebäuden tatsächlich genutzt wird, ist praktisch nicht feststellbar.”

Die ausländischen Geheimdienste haben in den vergangenen Jahren technisch stark aufgerüstet. In den Botschaften werden die Abhöranlagen so getarnt, dass sie von außen nicht erkennbar sind. Der Verfassungsschutz lässt zwar regelmäßig Luftbilder erstellen, aber auch darauf sind bestenfalls Dachaufbauten zu sehen.

“Bei den neueren Botschaftsgebäuden sind die technischen Anlagen bereits in die Architektur integriert”, sagte ein Verfassungsschützer. Man könne lediglich mutmaßen, was sich hinter den Fassaden verberge. Bleibt nur die Möglichkeit, Botschaftspersonal anzuwerben. Doch das ist für den deutschen Geheimdienst bei Verbündeten bislang tabu.

Auch Iran und Nordkorea spionieren wohl

Umgekehrt scheint das hingegen nicht zu gelten: Die deutschen Sicherheitsbehörden vermuten, dass auch die Briten und Franzosen in der Bundesrepublik spionieren. Laut Spionageabwehr dienen viele Botschaften am Sitz der Regierung als Abhörstationen. “Berlin ist die europäische Hauptstadt der Agenten”, sagte Verfassungsschutzpräsident Maaßen. Nach seiner Einschätzung gibt es in kaum einer anderen Stadt mehr Spione.

Deshalb ist vor zwei Monaten im Verfassungsschutz die Gruppe “Sonderauswertung Technische Aufklärung durch US-amerikanische, britische und französische Nachrichtendienste” gegründet worden. Sie soll zumindest prüfen, was die Bündnispartner treiben und ob auch deren Vertretungen Lauschangriffe starten. Ergebnisse dazu liegen bislang jedoch nicht vor. Auf Anfrage der Redaktion wollten sich weder die amerikanische, britische noch die französische Botschaft zu etwaigen Abhöraktionen äußern.

Besonders aktiv sollen Russland und China sein, aber auch Iran und Nordkorea. Auch dagegen sind die Sicherheitsbehörden nahezu machtlos. “Die meisten ausländischen Agenten, die in Berlin tätig sind, verfügen über einen Diplomatenstatus. Sie sind für die deutschen Strafverfolgungsbehörden nicht fassbar”, sagte Spionageabwehr-Chef Even.

“Halb offene Beschaffung”

Das nutzen die Geheimdienste aus. So mancher Botschaftsmitarbeiter ist in Wahrheit ein Spion. Der russische Auslandsgeheimdienst SWR spricht in großem Stil Mitarbeiter von Ministerien und Stiftungen sowie Referenten von Abgeordneten an. Das Ziel: Internes aus Politik, Wirtschaft und über die EU und Nato zu sammeln. Die Betroffenen wissen meist nicht, dass ihre Gesprächspartner Spione sind. “Halb offene Beschaffung” nennt der Verfassungsschutz diese Taktik.

Angesichts der Omnipräsenz von Spitzeln und modernster Abhörtechnik im Regierungsviertel ist es erstaunlich, wie schlecht sich Kanzlerin, Minister und Abgeordnete schützen. Warnungen gab es viele. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) wies Politiker schon vor drei Jahren intensiv auf die Abhör-Gefahr hin. Sie sollten nur speziell gesicherte Handys benutzen.

“Andere Smartphones sind für die Regierungskommunikation aus Sicherheitsgründen nicht geeignet und dürfen in den Regierungsnetzen nicht eingesetzt werden”, warnte das BSI die Abgeordneten in einem Schreiben vom 7.Oktober 2010, das der “Welt am Sonntag” vorliegt. Die marktüblichen Mobilfunkgeräte seien “in besonderem Maße abhörgefährdet”. Die Technikspezialisten unterrichteten auch die zuständige Kommission des Ältestenrats im Bundestag, das höchste Gremium der Parlamentsverwaltung.

Automatische Rufannahme ist riskant

Die Kommission, zuständig für die Informations- und Kommunikationstechniken des Bundestags, wurde sowohl mündlich als auch schriftlich vor den Gefahren beim Gebrauch gewöhnlicher Smartphones gewarnt. BSI-Präsident Michael Hange referierte in der Kommission zu dem geheimen Tagungsordnungspunkt “Sicherheit in der mobilen Datenkommunikation”.

Anhand von Folien erläuterte Hange, wie leicht herkömmliche “PDAs und Smartphones” angegriffen würden. Telefonate würden abgehört, die Identität des Nutzers angenommen, E-Mails und SMS mitgelesen, Netze und Datenbanken abgeschöpft.

“Manipulierte Geräte könnten auch als ferngesteuerte Wanze oder zur GPS-Ortung genutzt werden”, warnte Hange. Das BSI machte den Politikern mehr als ein Dutzend konkrete Sicherheitsvorschläge. “Die automatische Rufannahme sollte, wenn immer möglich, abgeschaltet werden, da sie für einen unbemerkten Aufbau einer Lauschverbindung zum Smartphone missbraucht werden könnte”, empfahl das in Bonn beheimatete BSI.

Problembewusstsein wächst

Nicht nur das Amt war alarmiert. Die Beauftragte der Regierung für die Informationstechnik, Cornelia Rogall-Grothe, versuchte mehrfach, das Bundeskabinett für die Sicherheitsbelange bei der mobilen Kommunikation zu sensibilisieren. Vergeblich – das Thema wurde immer wieder von der Themenliste für die Kabinettssitzungen abgesetzt. Rogall-Grothe gelang es innerhalb von drei Jahren nur ein einziges Mal, vor der Runde der Staatssekretäre sämtlicher Ministerien zu referieren – und zwar 2011. Aber auch das nur sehr kurz. “Muss das jetzt sein?”, raunte ihr einer der Anwesenden zu.

Durch den aktuellen NSA-Skandal rund um das Merkel-Handy scheint das Problembewusstsein zu wachsen. So fordert Innenminister Hans-Peter Friedrich eine gesetzliche Regelung, um die Sicherheit der digitalen Netze in Deutschland zu erhöhen. “Die Internetanbieter sollen künftig in einem IT-Sicherheitsgesetz verpflichtet werden, Datenverkehre in Europa ausschließlich über europäische Netze zu leiten”, sagte Friedrich der “Welt am Sonntag”. Jedem Kunden solle eine innereuropäische Lösung angeboten werden.

Er will erreichen, dass das IT-Sicherheitsgesetz in den Koalitionsvertrag aufgenommen wird. Am Mittwoch soll dies bereits Thema der Koalitionsverhandlungen sein. Das hilft zwar nicht, die Abhörantennen in den Botschaften lahmzulegen, dürfte es Geheimdiensten aber schwerer machen, Daten abzufangen.

Friedrich: “Wir spähen keine Freunde aus”

Zudem soll die Spionageabwehr, die derzeit etwa 100 Mitarbeiter hat, verstärkt werden. Was aber nicht heißt, dass die Dienste künftig mit geheimdienstlichen Mitteln gegen verbündete Staaten vorgehen. “Wir spähen keine Freunde aus – dieser Satz gilt”, sagt Friedrich.

Folglich wird man weiter von Ex-Geheimdienstlern wie Edward Snowden abhängig sein, wenn man mehr über die Aktivitäten von NSA & Co. erfahren will. In dem Brief, den er dem Grünen-Abgeordneten Hans-Christian Ströbele in Moskau überreichte, bietet Snowden der Regierung an, bei der Aufklärung behilflich zu sein. Er kann sich sogar vorstellen, nach Deutschland zu reisen.

Das ist allerdings kaum vorstellbar. Schließlich gibt es einen internationalen Haftbefehl der USA. Der verpflichtet die Bundespolizei, ihn bei einer Einreise festzunehmen. Selbst ohne den Haftbefehl müsste Snowden damit rechnen, dass sein Trip der NSA schon vor seiner Ankunft bekannt wäre – auch wenn der Besuch streng geheim gehalten würde.

Der Artikel auf welt.de

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Im Bett mit der Macht

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Im Bett mit der Macht

Dirk Banse, Lars-Marten Nagel und Uwe Müller

Ellen Rometsch soll die letzte Geliebte von US-Präsident John F. Kennedy gewesen sein. FBI-Akten zeigen nun, wie sehr die Stenotypistin aus der DDR amerikanische Politiker und Behörden in Aufregung versetzte

Ein Foto aus dem Jahr 1963. Eine brünette Frau lehnt an einer Säule, sie trägt ein dunkelblaues, ärmelloses Seidenkleid mit goldenen Stickmotiven. Rote Lippen, hochgesteckte Haare, lasziver Blick, der Anflug eines Lächelns. Eine Frau, attraktiv wie Elizabeth Taylor. Die schöne Deutsche, keine 30 Jahre alt, galt einst in den Vereinigten Staaten als Sicherheitsrisiko. Sie hat US-Präsidenten, Justizminister und Senatoren beschäftigt. Der FBI-Chef beauftragte seine Agenten damit, ihr Intimleben auszuforschen.

Damals, vor einem halben Jahrhundert, soll Ellen Rometsch die letzte Geliebte John F. Kennedys gewesen sein, kurz bevor dieser erschossen wurde. JFK ist seit 50 Jahren tot, Ellen Rometsch lebt zurückgezogen in einem Bungalow am Rhein bei Bonn.

Was genau zwischen ihr und Kennedy passierte, darüber möchte die heute 77-Jährige nicht reden. Wer sie dazu sprechen will und an ihrer Haustür klingelt, dem öffnet ihr Ehemann. Auch er wird nicht viel sagen, aber drei Dinge sind ihm wichtig. Seine Frau habe nie als Spionin im Dienst der Stasi gestanden. An den Zeitungsberichten, der Kennedy-Clan habe mit Zahlungen auf ein Liechtensteiner Konto das Schweigen von Ellen Rometsch erkauft, sei nichts dran. Und was in Washington damals geschah, soll für immer eine rein private Angelegenheit des Ehepaars bleiben.

Der Wunsch ist so verständlich wie aussichtslos. Kennedy ist ein Mythos. Je größer die Geheimniskrämerei, desto größer ist die Faszination. Da sind die Gerüchte über undurchsichtige Beziehungen zur Mafia. Das Geheimnis einer schweren Krankheit, die vor der Öffentlichkeit verborgen wurde. Und vor allem der Klatsch über Risse in der perfekt inszenierten Ehe mit Jacqueline. Kennedy, der Frauenheld. Die Lichtgestalt als fehlbarer Mensch.

Ellen Rometsch passt da gut ins Bild. Auch bei ihr sei Kennedy schwach geworden, erinnert sich einer, der früher dicht dran war am Präsidenten: Bobby Baker, seinerzeit Fraktionssekretär der Demokraten im US-Senat. Seine Erinnerungen hat das Politmagazin “Politico” erst jüngst unter der Überschrift “Sex in the Senate” veröffentlicht. Baker war einst ein begnadeter Strippenzieher in Washington, er will im Frühsommer 1963 persönlich die deutsch-amerikanische Liaison vermittelt haben.

Der inzwischen 85-Jährige, der seinen Posten noch vor dem Kennedy-Mord wegen dubioser Geschäfte hatte räumen müssen, beschreibt Ellen Rometsch als eine Frau, die “wirklich Oralsex liebte” und “mehrfach das Weiße Haus besuchte”. Kennedy habe ihn gleich nach seiner ersten Nacht mit ihr angerufen und sich euphorisch bedankt – mit Worten, die nicht gerade staatsmännisch klingen: “Es war der beste Sex, den ich je gehabt habe.”

Allerdings war es zunächst weniger Ellen Rometschs mutmaßliche Affäre mit dem Präsidenten als vielmehr ihre Herkunft aus der DDR, die 1963 das FBI auf sie aufmerksam werden ließ. Denn ihr Lebensweg hatte sie innerhalb weniger Jahre vom sächsischen Riesa bis in exklusive Washingtoner Zirkel geführt. Das schien verdächtig. Ellen Rometschs Eltern und deren sieben Kinder stammten ursprünglich aus Schlesien. Dann verließ die Familie die Heimat und baute sich in Riesa eine neue Existenz auf. Ellen – laut Geburtsurkunde heißt sie eigentlich Bertha Hildegard Elly – arbeitete als Stenotypistin bei der Kreisverwaltung, ihre Eltern bekamen als Verwalter einen Gutshof überlassen. Als die DDR-Führung dann die Landwirtschaft zwangskollektivieren wollte, setzte sich die Familie 1955 in den Westen ab.

Während die Eltern erneut einen Gutshof in Schwelm bei Wuppertal pachteten, machte die Tochter eine Kaufmannslehre und heiratete. Die Ehe scheiterte schnell. Bald darauf lernte sie in Siegburg ihren zweiten Ehemann kennen, mit dem sie 1958 einen Sohn bekam. Der Gatte heuerte bei der Bundeswehr an und bekam eine Stelle in Washington angeboten. Anfang 1961 zogen die Rometschs nach Amerika. Während er dort brav seinen Dienst als Feldwebel verrichtete, ließ sie sich als Fotomodell ablichten und genoss das Leben.

Es muss eine aufregende Zeit für Rometsch gewesen sein. Ihre Schönheit öffnete ihr Türen. Bald verkehrte sie in höheren Kreisen und besuchte Partys der Politprominenz. Oft mit dabei war Bobby Bakers Assistentin, Carole Tyler, eine ehemalige Schönheitskönigin. Beide Frauen besuchten den Quorum-Club, der sich in einem Hotel im Regierungsviertel auf dem Capitol Hill befand. Das Etablissement diente nicht nur als Treffpunkt für Politiker und Lobbyisten, sondern auch als diskrete Kontaktbörse für amerikanische Abgeordnete, deren Ehefrauen und Familien oft Tausende Meilen von Washington entfernt lebten.

Ellen Rometsch, die einen luxuriösen Lebensstil gepflegt, teure Kleider getragen und ein Ford Thunderbird Cabrio gefahren haben soll, wusste Männer zu beeindrucken. Verehrer nannten die 1,65 Meter große Ausländerin mit den Maßen 85-65-83 sogar in einem Atemzug mit Marilyn Monroe.

Eine Warnung, die beim FBI einging, sollte schließlich ihr Leben verändern. Der Verdacht kam auf, Rometsch könnte eine DDR-Spionin sein. In einem Memorandum vom 3. Juli 1963 heißt es, sie stamme “aus Ostdeutschland” und habe “früher für Walter Ulbricht gearbeitet”. Mitten im Kalten Krieg, der Bau der Berliner Mauer und die Kubakrise waren noch nicht allzu lange her, erregte eine solche Biografie sofort das Interesse der Sicherheitsbehörden.

Das FBI, die wichtigste US-Polizeibehörde, begann zu ermitteln. Die Geheimdienst-Erkenntnisse sind in einer 478 Seiten umfassenden Akte mit der Kennziffer 105-122316 überliefert, die inzwischen öffentlich einsehbar ist. Zunächst fällt auf, dass sich die FBI-Fahnder fast ein Vierteljahrhundert lang mit Rometsch beschäftigten, von 1963 bis 1987. Dann sind in den Unterlagen etliche Passagen geschwärzt. Die Namen von Zeugen mitsamt ihren Aussagen sind größtenteils unkenntlich gemacht worden. Doch was offen ist in den “FBI-Files Ellen Rometsch” (Zitat: “Trägt dick aufgetragenes Make-up einschließlich Lidschatten, hat eine gute Figur und einen starken deutschen Akzent”) liest sich wie ein Thriller, in dem alles Notwendige enthalten ist: Politik, Sex, Spionage.

Gleich nach dem ersten Hinweis von Anfang Juli 1963 suchten FBI-Beamte Rometsch in ihrer Arlingtoner Wohnung in der 3572 N. Military Road auf und vernahmen sie stundenlang. Die Frau des Bundeswehrsoldaten musste sich unangenehme Fragen gefallen lassen, doch offenbar hatte sie plausible Antworten. Denn ihre Vernehmer meldeten anschließend an die Zentrale: falscher Alarm. Ihre Empfehlung lautete, die Ermittlungen einzustellen. Eigentlich hätte die Akte damit geschlossen werden können.

Doch Rometsch hatte das Pech, in eine hoch komplizierte politische Gemengelage geraten zu sein. Bobby Baker, der einflussreiche Fraktionssekretär der Demokraten, stand plötzlich unter Korruptionsverdacht. Jener Mann, dessen Assistentin Carole Tyler mit Rometsch befreundet war und dem Kennedy angeblich über seine Nacht mit Rometsch berichtet hatte. Baker wurde vorgeworfen, bei Regierungsaufträgen die Hand aufgehalten zu haben. Aber auch sein diskretes Wissen über sexuelle Abenteuer von Spitzenpolitikern interessierte jetzt die Öffentlichkeit.

Zu Rometsch hielt das FBI nun nach weiteren Recherchen fest, sie habe “verbotene Beziehungen mit hochgestellten Regierungsvertretern”. In der prüden US-Gesellschaft sind Medien nie zimperlich, wenn Politiker ihre Frauen betrügen. Das war auch in den 1990er-Jahren bei Bill Clinton so. In den 1960er-Jahren scheuten sich die Journalisten noch, die Namen von Politikern zu nennen. Trotzdem machte die Bobby-Baker-Affäre viele in Washington nervös.

Die Sicherheitsbehörden waren alarmiert. Sie befürchteten, die Ehefrau eines einfachen Feldwebels könnte einen gesellschaftlichen Skandal auslösen und die politische Elite der Weltmacht USA möglicherweise bloßstellen. Welchen Repräsentanten hatte Rometsch, “the pretty German hausfrau”, den Kopf verdreht? In den Akten ist ab jetzt keine Rede mehr davon, die Ermittlungen einzustellen. Im Gegenteil, das FBI intensivierte die Nachforschungen. Es rechnete Rometsch fortan einer Gruppe von Frauen mehrheitlich deutscher Herkunft zu, “die ihre Dienste als ‘play girls’ verschiedenen Personen inner- und außerhalb der Regierung angeboten haben”. Einige davon seien prominent und stünden im Blick der Öffentlichkeit. Dieser Frauenring sei verantwortlich für “personal escapades, prostitution, partying, sex orgies, and so forth”.

FBI-Direktor Edgar Hoover schaltete sich persönlich ein. Nach Aktenlage spricht alles dafür, dass er ahnte, welch ungeheure Sprengkraft in dieser Geschichte steckte. Seine Rolle hat die “New York Times” später einmal so beschrieben: “Hoover wusste von Kennedys Affäre mit Rometsch und stellte sicher, dass der Präsident das erfuhr, was er wusste.”

Hoover verbiss sich regelrecht in den Fall. Aber was war sein Motiv? Wollte er Präsident Kennedy vor einem Skandal bewahren, oder sammelte er Material, um ihn zu kompromittieren? Jedenfalls informierte Hoover den US-Justizminister und JFK-Bruder Robert F. Kennedy. Auch die deutsche Botschaft wurde eingeschaltet. Rometschs zweiter Ehemann musste am 14. August 1963 bei seinen Vorgesetzten antreten. Er wurde “von den Seitensprüngen meiner Frau unterrichtet”, wie er später einer Zeitung sagte. Zu diesem Zeitpunkt war seine Ehe offenbar längst in einer schweren Krise. Denn bereits Wochen vor dem delikaten Gespräch mit seinen Chefs hatte Feldwebel Rometsch beim Landgericht Bonn die Scheidung eingereicht.

Noch hatte die Presse keinen Wind von der Affäre bekommen. Aber der Kreis derjenigen, die mehr oder minder eingeweiht waren, wuchs fast täglich. In dieser Situation entschieden sich die US-Verantwortlichen für eine drakonische Maßnahme. Sie erklärten den deutschen Stellen, Ellen Rometsch sei in den USA eine unerwünschte Person. Kein Spionageverdacht, nur Indizien für sexuelle Eskapaden – ein merkwürdiger Grund für eine Ausweisung. Offenbar befürchtete man in Washington eine Staatsaffäre. Eine Deutsche, zudem aus der DDR, die in Verbindung mit Baker stand und Beziehungen zu wichtigen Politikern unterhielt, das barg einfach zu viel Brisanz.

Ellen Rometsch verließ im August 1963 die USA. Ende September wurde auch ihre zweite Ehe geschieden, wegen “alleinigen Verschuldens” der Frau. Sie zog sich auf den gepachteten Gutshof Oberberge ihrer Eltern in Schwelm zurück. Das glamouröse Partygirl, das sie noch wenige Wochen zuvor gewesen war, streifte nun die Kittelschürze über, half bei der Rübenernte und molk Kühe. Der Traum vom American Way of Life war geplatzt.

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Am letzten Oktoberwochenende des Jahres 1963 berichteten US-Zeitungen über die Korruptions- und Sexaffäre in der amerikanischen Hauptstadt. Und in diesem Zusammenhang erstmals auch über Ellen Rometsch. Kurz darauf erschienen in der deutschen Presse Schlagzeilen wie “Sitten-Skandal in Washington!” – “Vielgeliebte Frau Feldwebel” und “Ihre Gunst war teuer”. Umgehend tauchten Heerscharen von Journalisten vor dem Gut Oberberge auf, selbst ein Kamerateam des US-Senders NBC reiste an. Die britische Boulevardzeitung “Daily Express” bot Ellen Rometsch 55.000 D-Mark für ihre Erinnerungen. Doch die Umworbene schlug das Angebot aus, sie wollte schon damals keine Interviews geben. Die Reporter wurden vom Gutshofbesitzer rüde vertrieben.

Am Tag des Journalistenauflaufs in Schwelm herrschte auch im Weißen Haus in Washington Hektik. John F. Kennedy bereitete die Berichterstattung offenbar allmählich ernsthafte Sorgen. In den FBI-Akten zu Ellen Rometsch heißt es in einem Papier vom 28. Oktober unter Berufung auf einen Vertrauten des Präsidenten, JFK sei “persönlich daran interessiert, die Geschichte zu beerdigen” (“to kill the story”).

Doch so einfach ließ sich die Debatte nicht unterbinden. Im Gegenteil. Die innenpolitische Auseinandersetzung über den mutmaßlichen Skandal um Baker gewann an Schärfe. Der Senat setzte einen Untersuchungsausschuss ein. Und die Republikaner witterten ihre Chance. Sie hofften, die Ära des populären Präsidenten Kennedy beenden zu können, der sich 1964 zur Wiederwahl stellen wollte. Erneut geriet Rometsch in das Räderwerk der großen Politik.

Über die abgeschobene Deutsche wurden in den USA nun immer abenteuerlichere Geschichten erzählt. Der republikanische Kongressabgeordnete Harold R. Gross behauptete, Ellen Rometsch habe unbekleidet in Champagner gebadet, unter den Augen wichtiger Militärs und hoher Beamter der Weltraumbehörde Nasa. Bei dieser Gelegenheit, so der Abgeordnete weiter, sei Rometsch an “unsere Raketen-Geheimnisse” gekommen, die dann durch sie “und andere Frauen dieser Art hinter den Eisernen Vorhang gelangt sind”.

Solche Kolportagen heizten die Berichterstattung der Presse zusätzlich an. Am 22. November 1963 veröffentlichte das auflagenstarke Magazin “Life” eine opulente siebenseitige Story: “Der Skandal in Washington weitet sich aus”. Der Autor des Stücks charakterisierte darin Rometsch als eine Frau, die oft zu gesellschaftlichen Ereignissen eingeladen worden war, “teils wegen ihres guten Aussehens und teils, so wird berichtet, weil ,sie alles machen würde'”.

An dem Tag, an dem “Life” mit dieser Geschichte erschien, fielen in Dallas die tödlichen Schüsse auf Kennedy.

Nach dem Attentat ließ das öffentliche Interesse an Rometsch spürbar nach. Für das Weiße Haus allerdings blieb der Vorgang weiter brisant. JFK-Nachfolger Lyndon B. Johnson, ein Protegé des geschassten Bobby Baker, wünschte sich laut FBI-Vermerken aus dem Februar 1964 “eine zusammenfassende Darstellung zum Fall Ellen Rometsch”. Das “German Party Girl” beschäftigte nun schon den zweiten Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Nur ein einziges Mal, im Oktober 1964, gab Rometsch ein kurzes Interview. Das Gespräch, das gerade einmal sechs Fragen und sechs Antworten umfasste, nutzte die geschiedene Frau, um sich als sittsame Mutter darzustellen. “Ich kann nur immer wieder sagen: das alles wird wegen des Wahlkampfes künstlich hochgespielt, und ich bin dabei das hilflose Opfer, das sich nicht wehren kann”, sagte sie der Hamburger Illustrierten “Stern”. Die Behauptung, sie habe nur aus Spionagegründen geheiratet, um so in die USA zu kommen, bezeichnete Rometsch als “glatten Unsinn”.

In diesem Punkt sagte sie offenbar die Wahrheit. Im Archiv der Stasi-Unterlagenbehörde findet sich zu den Mitgliedern der einst in Sachsen angesiedelten Familie von Ellen Rometsch keine einzige Erfassung in den Geheimdienstakten. Zusammen mit den Erkenntnissen der westlichen Geheimdienste spricht deshalb alles dafür, dass die frühere DDR-Bürgerin nie für den Osten spioniert hat.

Rometsch könnte heute viel dazu beitragen, Kennedys Image als Frauenheld einzuordnen. Doch das möchte sie nicht. Sie lebt ein ruhiges, zurückgezogenes Leben. Sie hat noch einmal geheiratet – und zwar ihren zweiten Mann, mit dem sie vor einem halben Jahrhundert in den USA war.

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Deutscher Putin-Unterstützer gibt den Russland-Experten

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Deutscher Putin-Unterstützer gibt den Russland-Experten

Keiner ist in den deutschen Medien so oft als Russland-Experte vertreten wie Alexander Rahr. Der Historiker ist der sichtbarste Vertreter eines Netzwerks von Experten, die dem Kreml nahestehen.

Von Dirk Banse, Florian Flade und Uwe Müller

Alexander Rahr ist sichtlich bemüht, nicht als Kreml-Propagandist wahrgenommen zu werden. Es ist Mittwoch, und Rahr tritt im ZDF-“Morgenmagazin” auf. Der Medienstar unter den Russland-Experten wählt seine Worte mit Bedacht, als er zur Ukraine-Krise befragt wird, übt Kritik an beiden Konfliktparteien. “In der Tat zündelt Russland im Osten der Ukraine. Andererseits leben dort viele Menschen, die sich von der Zentralregierung in Kiew im Stich gelassen fühlen”, sagt er.

Gegenüber russischen Medien spricht der 55-Jährige ganz anders. Da agitiert er auf Linie der Moskauer Führung und greift den Westen scharf an. Erst vor wenigen Tagen sagte er der russischen Duma-Zeitung “Parlamentskaja Gazeta”, die Europäische Union beabsichtige nicht nur die Ukraine für sich zu gewinnen, sondern auch “Georgien und Armenien und sogar Weißrussland vom russischen Einfluss zu befreien”.

Die EU ist also der Aggressor, der sich sogar das vom Autokraten Lukaschenko regierte Weißrussland einverleiben will. Das hat zwar keinen Bezug zur Realität, emotionalisiert aber die russische Bevölkerung. Solche Sätze hört man im Kreml gern.

Rahr gilt auch in Deutschland als idealer Gesprächspartner. Er hat russische Wurzeln, spricht beide Sprachen perfekt, argumentiert klar und deutlich. Und noch etwas macht ihn zu einem gefragten Experten für die Medien: Er hat einen direkten Draht zum russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Rahrs Netzwerk interessiert Moskau

Der Kreml interessiert sich aber nicht nur deshalb für Rahr, weil er ständig auf Sendung ist. Der in Taipeh geborene und in Deutschland aufgewachsene Historiker ist ein Netzwerker. So koordiniert er im Lenkungsausschuss des Petersburger Dialogs die Arbeitsgruppe Zukunftswerkstatt und ist Forschungsdirektor des Deutsch-Russischen Forums.

Allerdings stehen beide Formate, in denen Rahr eine wichtige Rolle spielt, in der Kritik. “Diese Organisationen waren einst gegründet worden, um den Dialog zwischen den Zivilgesellschaften beider Länder zu fördern”, sagt Stefan Meister, Osteuropa-Experte des European Council on Foreign Relations. “Ziel war es auch, unsere westlichen Werte wie Demokratie, Transparenz und Rechtsstaatlichkeit zu vermitteln. Doch inzwischen werden die Organisationen auch missbraucht, um Lobbyarbeit für Wirtschaftsinteressen zu betreiben und ein positives Russland-Bild in der deutschen Öffentlichkeit zu präsentieren.”

Beim Blick auf die Mitgliederlisten des Führungspersonals fällt auf, dass insbesondere Repräsentanten der Wirtschaft gut vertreten sind. Im Vorstand des Deutsch-Russischen Forums sitzt beispielsweise mit Michael Sasse der Presse- und Kommunikationschef des Kasseler Öl- und Gaskonzerns Wintershall. Die BASF-Tochter kooperiert seit 1990 eng mit Gazprom. Der weltgrößte Erdgasproduzent übernimmt gerade von den Deutschen das Handels- und Speichergeschäft, die dafür im Gegenzug Explorationrechte in Sibirien erhalten.

CDU und Grüne kritisieren den Historiker

Mit Wintershall steht auch Rahr in Verbindung. Er ist seit Juni 2012 “Senior Adviser” des Unternehmens. Einen Interessenkonflikt zwischen Beraterjob und seinem wissenschaftlichen und medialen Engagement kann er allerdings nicht erkennen. “Ich trenne diese Tätigkeit strikt von meiner ehrenamtlichen Aufgabe als Forschungsdirektor des Deutsch-Russischen Forums”, versichert Rahr im Gespräch mit der “Welt am Sonntag”.

Die Europapolitiker Werner Schulz von den Grünen und Elmar Brok von der CDU wollen daran nicht glauben. Für Brok ist Rahr kein unabhängiger Wissenschaftler, sondern ein Lobbyist des Kreml. “Die Institutionen wie das Deutsch-Russische Forum und der Petersburger Dialog sind begrüßenswert. Allerdings sollten sie nicht durch Leute wie Rahr unterwandert werden”, sagt Brok.

Schulz sieht Rahr ebenfalls kritisch. Er propagiere die Strategie von Putin, Russland als strategische Rohstoffmacht auszurichten. “Herr Rahr agiert in Deutschland als eine Art Einflussagent des Kreml”, sagt Schulz. Ein schwerer Vorwurf. Gegnerische Mächte nutzen Einflussagenten, um Organisationen im Auftrag der jeweiligen Regierung gezielt zu unterwandern und Desinformation zu betreiben.

Rahr weist die Anschuldigung, von Moskau gesteuert zu sein, entschieden zurück. “Es wäre mir zutiefst zuwider, ein Agent zu sein”, sagte er. Er habe während des Kalten Krieges bei dem von den USA finanzierten Rundfunksender Radio Liberty gearbeitet und damals gelernt, sich in die “Köpfe des Gegners” hineinzuversetzen. Ganz in diesem Sinne wolle er heute den Deutschen erklären, wie Moskaus Führung ticke. So verstehe er seine Aufgabe.

“Im Grunde zeigt uns Putin den Spiegel”

Tatsächlich übernimmt Rahr häufig Putins Rhetorik. Mit Russlands mächtigstem Mann verbindet ihn ein besonderes Erlebnis. Rahr berichtet von einem langen Abendessen mit Putin, dem er dabei von seinem Vater erzählt habe. Gleb Rahr, ein Mann der russisch-orthodoxen Kirche, floh einst vor der Roten Armee und wurde anschließend von Nazis ins Konzentrationslager gesteckt.

Nach 1945 profilierte er sich im Westen als Gegner des Kommunismus, der sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs über seine Kirche wieder seiner Heimat annäherte. Putin habe damals spontan beschlossen, seinem Vater die russische Staatsbürgerschaft zu verleihen, sagt der Sohn. So etwas verbindet. So etwas macht dankbar.

Moskau jedenfalls scheint auf Rahr zu setzen, zumal dieser manchmal klare Kante zeigt. So ließ er 2012 eine Journalistin der “Komsomolskaja Prawda” wissen, dass die Amerikaner “den Deutschen das Hirn amputiert” hätten. Der Westen verhalte sich ebenso aggressiv wie die einstige Sowjetunion, wenn es darum gehe, sein Wertesystem in andere Regionen der Welt zu exportieren.

So etwas würde ihm in Deutschland nie passieren. Selten rutschen ihm hierzulande so polarisierende Sätze heraus wie kürzlich in der ARD-Talkshow “Anne Will”: “Im Grunde genommen zeigt uns der Putin den Spiegel. Und sagt das, was ihr vom Westen her in Kiew gemacht habt, Leute in Uniformen umgezogen und Kampftruppen auf dem Maidan aufgestellt, das zeige ich euch, dass das bei mir auf der Krim auch möglich ist.” Und er legte nach, indem er behauptete: “Ja, die Politik von Putin, gegen Amerika gerichtet, dem Westen die Faust zu zeigen, unterstützen viele.”

Ehrenprofessur an der Moskauer Diplomatenschule

Da wundert es nicht, dass für Rahr in Russland die Türen offen stehen. Er ist etwa Ehrenprofessor der Moskauer Diplomatenschule und Mitglied des Konsultativrates des Valdai-Klubs, der einmal im Jahr Russland-Experten ein Treffen mit hochrangigen russischen Politikern ermöglicht. Die Debattierrunde wurde 2004 auf Anregung der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti und des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik Russlands ins Leben gerufen. Präsident Putin schaut gern vorbei.

Putin hat auch den Petersburger Dialog ins Leben gerufen, im Jahr 2001, zusammen mit dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder (SPD). Dieses Diskussionsforum, das die Verständigung zwischen den Zivilgesellschaften Deutschlands und Russlands fördern soll und auch von Rahr repräsentiert wird, sorgt seit geraumer Zeit für viel Frust auf deutscher Seite.

So hat sich erst jüngst die renommierte Hamburger Körber-Stiftung nach zwölf Jahren als Sponsor zurückgezogen. Begründung: Auf russischer Seite habe sich der Ton derart verschärft, dass ein Dialog kaum noch möglich gewesen sei.

Ähnliche Vorbehalte werden mittlerweile auch gegenüber dem Deutsch-Russischen Forum mit seinem Forschungsdirektor Rahr laut. In dem illuster besetzten Kuratorium, dessen Vorstandsvorsitz jetzt der ehemalige brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) übernommen hat, findet sich unter anderem der Name von Hans-Joachim Gornig, dem ehemaligen stellvertretenden DDR-Minister für Energie und Kohle, der später als Chef von Gazprom Germania hartgesottene Stasi-Spitzel in Führungspositionen beschäftigte.

Ex-Stasi-IMs im Deutsch-Russischen Forum

Die russische Seite wiederum hat den Präsidenten der staatlichen russischen Eisenbahn, Wladimir Jakunin, in das Gremium entsandt. Der Putin treu ergebene Manager steht seit März auf der Sanktionsliste der USA. Dazu sagte Jakunin vor wenigen Tagen dem “Handelsblatt”: “Diese ganze Propaganda-Kampagne ist darauf gerichtet, den Präsidenten unseres Landes zu desavouieren.” Die Amerikaner seien einer langjährigen Gehirnwäsche unterzogen worden.

Für das Deutsch-Russische Forum stellt diese Einlassung offenbar kein Problem dar. Der “Welt am Sonntag” teilte das Forum mit, dass Jakunin als Präsident des World Public Forum – Dialog of Civilizations wirke, eine internationale NGO. “Dieses Forum engagiert sich seit zehn Jahren für den Dialog der Kultur der ganzen Welt”, heißt es.

Zum Kuratorium des Deutsch-Russischen Forums gehört auch der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, den das Ministerium für Staatssicherheit als Inoffiziellen Mitarbeiter mit dem Decknamen “Czerny” geführt hatte. Der 74-Jährige, der eine Spitzeltätigkeit bestreitet, hat zudem den Vorsitz des Lenkungsausschusses des Petersburger Dialoges inne.

Dort wirkt André Brie mit, der fast zwei Jahrzehnte als IM “Peter Scholz” für Mielkes Spionageabwehr im Einsatz war. Dazu teilt eine Sprecherin des Petersburger Dialoges mit, Brie sei im Jahr 2001 von der PDS in seiner Funktion als Abgeordneter des Europäischen Parlaments nominiert worden. Der Lenkungsausschuss bestehe aus Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus allen Bereichen der Gesellschaft, die sich ehrenamtlich engagierten.

“Kein unabhängiges Gesprächsforum mehr”

Der frühere Russland-Beauftragte der Bundesregierung und stellvertretende CDU/CSU-Fraktionschef Andreas Schockenhoff, selbst Mitglied des deutschen Lenkungsausschusses, sieht das anders: “Der Petersburger Dialog ist kein unabhängiges Gesprächsforum mehr.” Der Kreml steuere, wer am Petersburger Dialog von russischer Seite teilnehme und wer nicht.

Putin-Kritiker kämen nicht zu Wort. “Die Breite der russischen Zivilgesellschaft ist dort nicht vertreten. Gerade darin aber läge die Chance, über Politik und Wirtschaft hinaus mit Russland Beziehungen aufzubauen. Diese Chance wird von der russischen Führung nicht nur nicht gewollt, sondern auch unterbunden”, kritisiert Schockenhoff.

Er habe mehrfach versucht, Gesprächspartner mit kritischerem Ansatz in den Petersburger Dialog zu holen. Das sei allerdings auf wenig Gegenliebe gestoßen. Vor allem von russischer Seite werde dieses Forum missbraucht. “Deren Vertreter sind gesteuert, um die Politik Moskaus salonfähig zu machen”, sagt Schockenhoff.

Hingegen hält der Petersburger Dialog an Rahr fest. Die von ihm geleitete Arbeitsgruppe Zukunftswerkstatt setze sich aus jungen Nachwuchskräften beider Länder zusammen, die einen intensiven Gedankenaustausch über die Zukunft des deutsch-russischen Verhältnisses führen, heißt es auf Anfrage.

“Russland-Experten” im öffentlich-rechtlichen TV

Rahr braucht Plattformen wie den Petersburger Dialog und das Deutsch-Russische Forum, um seinen Einfluss nicht zu verlieren. Noch vor zwei Jahren war er Leiter des renommierten Berthold-Beitz-Zentrums in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), für die er 18 Jahre gearbeitet hatte.

Sein Nachfolger wurde Ewald Böhlke. Dessen Biografie wirft ebenfalls Fragen auf. So studierte er bis 1989 Philosophie an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin. 1992 schrieb er mit Michael Brie, der wie sein Bruder André Stasi-IM war, das Buch “Russland wieder im Dunkeln”.

Aus diesem Milieu wechselte er 1995 zur Daimler AG – als Zukunftsforscher. Böhlke wollte sich dazu nicht äußern. Die DGAP lobt ihn in den höchsten Tönen: “Ewald Böhlke wurde unter einer Vielzahl von Bewerbern aufgrund seiner ausgezeichneten Russland-Expertise und seiner Berufserfahrung als langjähriger Mitarbeiter in einem internationalen Konzern ausgewählt.”

Das meinen offenbar auch die Fernsehsender. Nachdem Rahr am Mittwoch zum Ukraine-Konflikt im ZDF-“Morgenmagazin” befragt worden war, trat am Donnerstag Böhlke mit ähnlichen Thesen wie am Vortag Rahr auf. Auch er war “Russland-Experte”. Was für ein Zufall.

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Russen spionieren Deutsche bei Eisernen Treffs aus

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Russen spionieren Deutsche bei Eisernen Treffs aus

Moskauer Spione werben in Berlin Informanten aus Politik und Wirtschaft an. Sie tarnen sich als Botschaftsmitarbeiter und bauen Freundschaften auf, die für ihre Quellen schlimme Folgen haben können.

Von Dirk Banse, Florian Flade, Per Hinrichs und Julia Smirnova

Das wuchtige Gebäude an der Berliner Prachtallee Unter den Linden wirkt wie eine Trutzburg, hinter der sich viele Geheimnisse verstecken. In dem 1953 fertiggestellten, mit Stein und Granit verkleideten Bau fand die Konferenz der Außenminister der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges statt; 1971 wurde dort über das Viermächteabkommen zu West-Berlin verhandelt. Im Inneren sind die Türen mit Gold verziert, allein die Festräume sind insgesamt 1500 Quadratmeter groß. Hier befindet sich die Botschaft der Russischen Föderation, die diplomatische Vertretung von Wladimir Putins Reich.

Für Geheimdienste jedoch ist das Haus aus der Stalin-Zeit in erster Linie eine “Legalresidentur” für Agenten, die Politik und Wirtschaft der Bundesrepublik auskundschaften – und zwar so intensiv wie nie zuvor. “Für kaum einen Geheimdienst ist die nachrichtendienstliche Aufklärung in Deutschland so wichtig wie für den russischen”, sagt Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen der “Welt”. Ob Lageberichte aus Nato- und Bundeswehr-Einrichtungen, Informationen aus dem Politikbetrieb oder Hightech in deutschen Unternehmen – die Russen interessiert alles.

Ungewöhnlich ist das noch nicht: Die meisten westlichen Staaten, auch die Bundesrepublik, nutzen ebenfalls Agenten mit Diplomatenstatus, um “Quellen” in anderen Ländern anzusprechen. Doch die Moskauer Geheimdienstler legen ein besonders hohes Tempo vor. Allein in Berlin soll es nach Einschätzung von Agenten mehr als 100 Anwerbeversuche im Jahr geben. In Europa konzentrieren sich die Russen ansonsten beispielsweise auf einige wichtige Nato-Standorte: Brüssel, Neapel, Izmir, Madrid, Tallinn. Dort wird sehr gezielt nach sensiblen Interna gefischt.

Es fängt an mit einer Einladung

Die Jagd nach Informationen beginnt meistens mit einer harmlosen Einladung. Ein Empfang in der Botschaft der Russischen Föderation, Unter den Linden 63, Berlin. Das Motto des Abends: ein “deutsch-russischer Kulturdialog”. Geladen sind Politiker und Wissenschaftler, auch Mitglieder des Bundestages. Einige kommen persönlich, andere lassen sich durch ihre Mitarbeiter und Referenten vertreten. Ein Teilnehmer berichtet, was er dort erlebt hat. Er möchte anonym bleiben.

Bei Buffet und Kaltgetränken ergeben sich interessante Gespräche. Manchmal nur Handshake und Small Talk. Fast immer werden Visitenkarten ausgetauscht. Unter den Gästen ist der Informant, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des deutschen Wirtschaftsministeriums, Referent eines Ministers, ein Experte im Bereich Energiewirtschaft, maßgeblich beteiligt an der Umsetzung der Energiewende.

Er ist zum ersten Mal zu einem diplomatischen Empfang eingeladen. Und überrascht von der Gastfreundschaft und der Atmosphäre. Schnell kommt er mit einem Mann ins Gespräch, der sich als Botschaftsmitarbeiter vorstellt. Der Russe spricht akzentfreies Deutsch und erzählt, er sei ebenfalls im Bereich Energiewirtschaft tätig.

Die deutsche Wirtschaft beeindrucke ihn sehr. Insbesondere die angestrebte Energiewende. Aus dem Small Talk wird schnell eine Fachdiskussion unter Experten, man ist sich sympathisch. Der Russe sagt, er würde das nette Gespräch gern fortsetzen. Vielleicht bei einem Abendessen. Der deutsche Ministeriumsmitarbeiter willigt ein. Nummern werden getauscht.

Behördenterminus “Halboffene Beschaffung”

Nur Tage später meldet sich der russische Energieexperte und schlägt ein Treffen vor. In einem französischen Restaurant in Charlottenburg. Über die Monate wird der Kontakt intensiver, die beiden treffen sich regelmäßig – stets in anderen Restaurants, Ort und Uhrzeit aber bleiben gleich. Irgendwann ist man per Du. Schon bald spricht man nicht mehr nur über die Arbeit, sondern auch über Privates.

Was wie eine Anbahnung einer Geschäftsbeziehung aussieht, ist in Wahrheit der Beginn einer verhängnisvollen Freundschaft. Denn der russische Gesprächspartner ist ein Spion. Und solche Szenen spielen sich in der deutschen Hauptstadt im Wochentakt ab.

Die Abteilung 4 des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), zuständig für die Spionageabwehr, beobachtet derzeit Aktivitäten des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR im Umfeld des Bundestages. Russische Agenten, getarnt als Mitarbeiter der Botschaft, sprechen gezielt Referenten und wissenschaftliche Mitarbeiter von deutschen Politikern, von Stiftungen und Ministerien an. Sie gewinnen die oft ahnungslosen Zielpersonen als Quellen. Und gelangen so an sensible Informationen. “Halboffene Beschaffung” nennt der Verfassungsschutz diese Form der Spionage.

Seit dem Einzug neuer Abgeordneter in das Parlament verstärken russische Agenten ihre Werbebemühungen noch, befürchten Sicherheitsexperten. Gesteuert werden sie aus der russischen Botschaft heraus; bis zu ein Drittel des Personals dort habe einen nachrichtendienstlichen Hintergrund, schätzt der Verfassungsschutz.

Moskaus Spione verwenden ihre echten Namen

Die Russen setzen vor allem auf Agenten, die in der Regel ihre echten Namen verwenden und in der Heimat meist speziell für ihre Tätigkeit in einem bestimmten Bereich geschult wurden. Sie geben beispielsweise vor, Experten für erneuerbare Energien zu sein. “Einige haben tatsächlich Fachwissen in ihrem angeblichen Spezialgebiet”, sagt ein Verfassungsschützer. “Sie müssen schließlich in der Lage sein, fachliche Gespräche zu führen.”

“Die russischen Agenten analysieren sehr genau, wer für sie interessant sein könnte”, sagt Burkhard Even, Chef der Spionageabwehr beim Verfassungsschutz. “Und dann geht man gezielt eine Freundschaft ein.” Der Verfassungsschutz hat beobachtet, dass die russischen Agenten ihre deutschen Kontaktpersonen in Restaurants, Bars und Cafés treffen. Nicht in unmittelbarer Nähe der russischen Botschaft. Über ganz Berlin verteilt. Geld fließt bei den Treffen nur indirekt. Die russische Seite zeigt sich oft großzügig, bezahlt Essen und Getränke, macht der deutschen Kontaktperson manchmal Geschenke.

Die weiteren Treffen legen die russischen Agenten bereits im Voraus fest. Nachrichtendienstler sprechen dann von sogenannten Eisernen Treffs. Falls der Termin einmal nicht eingehalten werden kann, gibt es einen Alternativtermin, etwa zwei Tage später, zur selben Uhrzeit. Absagen oder Zusagen werden aus Angst vor Überwachung nicht per Telefon, SMS oder E-Mail mitgeteilt. Anrufe am Arbeitsplatz der Kontaktperson, also in der russischen Botschaft, soll die deutsche Seite vermeiden.

Die Quellen können sich strafbar machen

Trotz der Vorsichtsmaßnahmen stellt der Verfassungsschutz regelmäßig Anwerbungsversuche des russischen Geheimdienstes fest. Der deutsche Politiker, Ministeriumsmitarbeiter oder Wissenschaftler, der von einem getarnten russischen Spion kontaktiert wurde, wird dann von der Spionageabwehr gewarnt.

Der Verfassungsschutz stellt immer wieder fest, dass betroffene Personen völlig überrascht sind, wenn sie erfahren, mit wem sie sich eingelassen haben. Spätestens wenn sie aufgefordert werden, das Handy auszumachen, sollte man Verdacht schöpfen, berichtet der Verfassungsschutz weiter. Nicht selten habe sich die russische Seite nach einiger Zeit offen als Geheimdienst geoutet.

Die Naivität in diesem Bereich sei nach wie vor sehr groß, sagen Nachrichtendienstler. Dass aus zunächst harmlos erscheinenden Kontakten auch schnell eine konspirative Zusammenarbeit entstehen kann, ist vielen nicht bewusst. Um das Vertrauen der Geheimdienst-Kandidaten zu gewinnen, geben sich die russischen Agenten bewusst kumpelhaft. Während der Treffen sollen sich die Kontaktpersonen wohlfühlen. So werden mitunter auch unbedacht sensible Informationen weitergegeben.

Ein riskantes Spiel. Denn für die russischen Pseudo-Diplomaten hat die Anwerbearbeit keine juristischen Folgen. In Deutschland fällt ihre Arbeit zwar unter Paragraf 99 des Strafgesetzbuches – “Geheimdienstliche Agententätigkeit” –, ihr Diplomatenstatus schützt sie jedoch vor Strafverfolgung. Dies gilt allerdings nicht für ihre deutschen Quellen, sollten diese sensible Informationen weitergeben. Ihnen drohen Strafverfahren mit bis zu zehn Jahren Haft wegen Landesverrats.

Auch Agenten mit falschen Identitäten im Land

Nicht nur das Anwerben von Personal aus dem Bundestagsumfeld bereitet der deutschen Spionageabwehr derzeit Sorge, sondern auch das sogenannte Illegalen-Programm. Der russische Auslandsgeheimdienst SWR versucht nach wie vor, Agenten mit falschen Identitäten nach Deutschland einzuschleusen (Link: http://www.welt.de/113505450) , die hier oft jahrelang unerkannt spionieren. Der Chef der deutschen Spionageabwehr hat diese Spione im Blick.

Berühmtes Beispiel: das Ehepaar Anschlag. Das Agentenpärchen (Decknamen: “Pit” und “Tina”) war schon in der Endphase des Kalten Krieges unter einer Legende in die Bundesrepublik gekommen. Die beiden Russen gaben sich als in Südamerika geborene Österreicher aus.

Sie sollen im Auftrag des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR unter anderem einem niederländischen Diplomaten 72.200 Euro für die Beschaffung mehrerer Hundert geheimer Dokumente zu Nato und EU gezahlt haben. Als sie in die Bundesrepublik eingeschleust wurden, existierte die Sowjetunion noch und in Ost-Berlin herrschte Honecker. Die ideologischen Einstellungen und Arbeitsmethoden der russischen Dienste sind noch von der sowjetischen Geschichte geprägt.

“Von Russen geht größte Gefahr aus”

Im Jahr 2011 flog das Paar auf, im Juli 2013 wurden die Agenten vom Oberlandesgericht Stuttgart zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. “Die Tätigkeit der Angeklagten war in hohem Maß von Heimlichkeit und konspirativen Methoden geprägt und verletzte die Souveränität der Bundesrepublik erheblich”, sagte die Vorsitzende Richterin bei der Urteilsbegründung.

Die deutschen Geheimdienste halten denn auch die Folgen der Ausspähungen durch die Amerikaner für überschätzt, so ein Nachrichtendienstler. “Trotz der Enthüllungen über die NSA hat sich an der Einschätzung, dass von den Russen die größte Gefahr im Spionagebereich ausgeht, nichts geändert.”

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Moskaus Angst vor ausländischen Geheimdiensten

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Moskaus Angst vor ausländischen Geheimdiensten

Es klingt ein wenig nach Satire, was das russische Außenministerium Anfang der Woche verkündete. Russische Beamte, insbesondere Angehörige der Streitkräfte und der Sicherheitsbehörden, dürfen zukünftig nicht mehr in bestimmte Länder reisen. Das Reiseverbot für die schätzungsweise 250.000 Russen umfasst mehr als 100 Länder, darunter die gesamte EU und der nordamerikanische Kontinent. 

Der Grund? Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise, wolle man die Risiken für russische Geheimnisträger minimieren.”Provokationen und Anwerbeversuche ausländischer Nachrichtendienste sollen verhindert werden”, berichtet die Moskauer Tageszeitung “Kommersant”. Nur unter “außergewöhnlichen Umständen und aus guten Gründen” würden Ausnahmen gemacht.

Moskau fürchtet Anwerbeversuche von ausländischen Geheimdiensten – das klingt verdächtig nach unserem Bericht in der vergangenen Ausgabe der “Welt am Sonntag” zu den Aktivitäten der russischen Spione in Berlin. Nur mit vertauschten Rollen.

In der “Welt am Sonntag” hatten wir berichtet, dass russische Agenten unter der Tarnung als Diplomaten tätig zu sein, Personal aus dem Umfeld des deutschen Bundestages anwerben. Im Fokus der Moskauer Spione stehen dabei Referenten von Bundestags-Abgeordneten sowie wissenschaftliche Mitarbeiter von Ministerien und Stiftungen. Das Ziel: sensible Informationen über die deutsche Wirtschafts-, Außen- und Verteidigungspolitik abzuschöpfen.

Der Artikel schlug hohe Wellen. Viele Kollegen – darunter Spiegel Online, Süddeutsche, Deutsche Welle, Stern und RTL –  griffen das Thema auf. 

Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele forderte gar eine Sondersitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums zum Thema Russen-Spionage.

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Vom Stasi-Lehrling zum Topmanager in Russland

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Vom Stasi-Lehrling zum Topmanager in Russland

Ein Sachse steigt in Moskau zum Vizeverlagschef auf. Jüngst löste er den Vertrag mit einem Redakteur auf: Ein Eklat, der durch die Stasi-Vergangenheit des Managers in neuem Licht erscheint.

Von Dirk Banse, Michael Ginsburg und Uwe Müller

Andreas Setzepfandt hat ein Herz für Russland. Der Leipziger lebt seit rund 15 Jahren in Moskau, wo er Vizegeneraldirektor und Personalchef von Burda Russland ist. Der Ableger des Münchner Verlags beschäftigt mehr als 400 Mitarbeiter, gibt Luxus-, Lifestyle- sowie Computer-Zeitschriften heraus. Setzepfandt engagiert sich zudem ehrenamtlich in der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer. Dort ist er stellvertretender Vorsitzender und leitet das Komitee für Personalfragen.

Der 44-Jährige lässt kaum eine Gelegenheit aus, um deutsche Arbeitgeber darauf hinzuweisen, dass sie ihre Angestellten in Russland pflegen sollten. Er empfiehlt, Betriebskindergärten zu gründen, eine Ausweitung der Telearbeit zu prüfen und an Klimaanlagen für die Mitarbeiter zu denken. Vor einem halben Jahr allerdings hat das Bild vom verständnisvollen Personaler einen hässlichen Kratzer erhalten.

Kritik an der Feindseligkeit auf Facebook

Es war im Februar 2014, als Setzepfandt in eine Affäre geriet und einen öffentlichen Proteststurm auslöste. Damals sagte der Moskauer Journalist Dmitri Schulgin, er habe aus politischen Gründen seinen Job bei Burdas Magazin “Computerbild Russia” verloren. Der Redakteur hatte auf seinem Facebook-Profil die Feindseligkeit gegenüber der Ukraine kritisiert: “Mein Land ist krank, wie die Deutschen in den 30er- bis 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts.” Solche Kommentare seien ihm zum Verhängnis geworden, behauptete Schulgin anschließend.

In Deutschland ergriff die “tageszeitung” sogleich Partei für den Kollegen. “Burdas freiwillige Unterwerfung” titelte das Blatt und unterstellte damit dem Verlagshaus Duckmäusertum gegenüber dem Kreml. Der Buchautor Jürgen Roth fragte: “Burda-Verlagshaus als Handlanger des KGB/FSB in Moskau?”

Dafür gibt es keinen Beleg. Die “Welt” ist jetzt allerdings auf einen anderen Geheimdienstbezug gestoßen: Burdas Moskauer Statthalter Setzepfandt war als junger Mann hauptamtlicher Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und wurde darin geschult, wie man politische Gegner effektiv bekämpft.

Keine Veranlassung, die Stasi-Tätigkeit zu melden

Über diesen Teil seiner Vergangenheit hat Setzepfandt bis zur Anfrage dieser Redaktion weder seinen Arbeitgeber Burda noch die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer informiert. “Weil ich keine Veranlassung sah, diese Tätigkeit aus sehr frühen Jahren anzugeben”, begründet er sein Schweigen. Das Thema sei für ihn mit dem Zusammenbruch der DDR abgeschlossen gewesen. Der Sachse will auch nie seine Akte über die Zeit als MfS-Angehöriger eingesehen haben.

Die Dokumente aus dem Stasi-Unterlagenarchiv, die der “Welt” vorliegen, führen direkt zurück zu den Anfängen der Friedlichen Revolution in Leipzig. Während dieser Freiheitsbewegung stand Setzepfandt auf der falschen Seite der Geschichte. In der MfS-Kreisdienststelle Leipzig-Stadt wurde er ab Herbst 1988 an “ausgewählte Probleme der Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion (PID)/politischen Untergrundtätigkeit (PUT)” herangeführt, wie in seinem “Einarbeitungsplan” vermerkt ist. So wurde der Stasi-Lehrling darin geschult, “operative Ermittlungen und Beobachtungen” durchzuführen.

Exzellente Arbeit bei Ermittlungsberichten

Sein Vorgesetzter lobte in bürokratischem Deutsch, der neue Mitarbeiter habe beim “Anfertigen von Ermittlungsberichten, zusammengefassten Auskunftsberichten oder einer aus der Analyse gefertigten zusammengefassten Information” exzellente Arbeit geleistet. Setzepfandt lauschte auch Vorträgen von erfahrenen Kollegen zu Themen wie “Hauptaufgaben und Grundprinzipien der Arbeit des MfS”, “Erkennen von Anzeichen feindlicher Tätigkeit” und “Wachsamkeit, Geheimhaltung und Konspiration”.

Obwohl Stasi-Chef Erich Mielke seinerzeit in Leipzig “Provokateure, Randalierer, Rowdys und andere Kriminelle” wegen “Zusammenrottung” niederprügeln und ins Gefängnis stecken ließ, strebte Setzepfandt genau in dieser Phase eine Offizierskarriere in der Geheimpolizei an. Deshalb nahm er noch am 4. September 1989, als in seiner Heimatstadt immer mehr Bürger gegen das SED-Regime aufbegehrten, ein Studium an der MfS-eigenen Juristischen Hochschule auf. Doch schon im Januar 1990 wurde die Potsdamer Stasi-Universität abgewickelt.

Setzepfandt blieb in der Stadt und studierte Jura an einer gewöhnlichen Hochschule. “Für mich hat damals ein neues Leben begonnen”, sagt der Manager heute. Ein Leben, in dem er sich bestens etablierte: Im August 1999 wurde er in Dresden als Rechtsanwalt zugelassen. Dann ging es nach Moskau, er arbeitete dort zunächst für zwei namhafte Kanzleien, Beiten, Burkhardt, Mittl & Wegener sowie Lovells. Seine Stasi-Zugehörigkeit sieht er rückblickend als Fehler: “Heute würde ich anders entscheiden.”

Auslandshandelskammer bedauert den Vorfall

So einfach wird sich diese Sache aber nicht ad acta legen lassen. Die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer, mit rund 850 Mitgliedsfirmen wichtigste Anlaufstelle im bilateralen Geschäft, zeigt sich überrascht von der Verstrickung ihres Vizechefs. Auf Anfrage schreibt sie: “Wir bedauern, dass Herr Setzepfandt sich nicht im Vorfeld zu seiner Vergangenheit geäußert hat”.

Rainer Seele, Präsident der Organisation und Vorstandschef des Kasseler Öl- und Gaskonzerns Wintershall, betont, Setzepfandts Stasi-Zugehörigkeit sei ihm “persönlich in keiner Weise bekannt” gewesen. Die Kammer stelle an die Kandidaten für den Vorstand sehr hohe Anforderungen. Allerdings sehe die Satzung keine Überprüfung von Personen durch Organe der Bundesrepublik Deutschland vor, schreibt Seele weiter.

Redaktionen scheuten Prozesse nicht

Für das Verlagshaus Burda ist der Vorgang besonders heikel. Magazine wie “Focus” und “Superillu” haben mehrfach Stasi-Fälle aufgedeckt. Um die Namen der Geheimdienstmitarbeiter publik machen zu können, scheuten die Redaktionen auch langwierige Prozesse nicht. Jetzt sieht sich ein Manager im eigenen Unternehmen mit seiner Stasi-Vergangenheit konfrontiert. “Wir nehmen dieses Thema sehr ernst und führen mit Herrn Setzepfandt daher auch entsprechende Gespräche”, teilt die Münchner Zentrale mit.

Allerdings sieht der Verlag keinen Grund, die Affäre um den Redakteur Schulgin neu zu bewerten. Der Journalist hat seinen Job bei “Computerbild Russia” längst verloren. Obwohl Personalchef Setzepfandt das Ende des Arbeitsverhältnisses persönlich besiegelt hat, will Burda diese Akte nicht wieder aufmachen. In Schulgins Arbeitsbuch, einem Dokument, in dem alle beruflichen Stationen von Arbeitnehmern in Russland aufgeführt werden müssen und das der “Welt” vorliegt, prangt an der entsprechenden Stelle der Stempel des Managers: “Chef der Abteilung Arbeit mit dem Personal, A. Setzepfandt”.

Nach Darstellung von Burda ist der Verlag am 20. Februar mit dem Eintrag von Schulgin auf dessen privater Facebook-Seite konfrontiert worden. Dort habe der Angestellte allerdings angegeben, bei Burda Russland zu arbeiten. Laut Verlag ist ihm in einem Gespräch mitgeteilt worden, dass sich Burda Russland von seiner privaten Meinung distanziere. Daraufhin habe Schulgin seine Kündigung eingereicht, Druck sei nicht ausgeübt worden.

Aufforderung, das Unternehmen zu verlassen

Der Betroffene hingegen sagt, er sei von seinen Vorgesetzten zunächst gedrängt worden, öffentlich zu erklären, der Eintrag stamme nicht von ihm. Er könne ja sagen, man habe seinen Account gehackt. Er sei aber nicht bereit gewesen zu lügen, sagt Schulgin. Deshalb habe man ihm gedroht, dafür zu sorgen, dass er als “Extremist” kein Visum mehr für den europäischen Schengen-Raum erhalten werde. Das empfand der Redakteur als ultimative Aufforderung, Burda zu verlassen.

Ein weiterer Facebook-Eintrag, der ihm viel Ärger einbrachte, hat folgenden Wortlaut: “Wenn ich auf der Arbeit und in der Metro die Gespräche höre, habe ich den Eindruck, dass 99,9 Prozent der Russen gleich ein Loblied auf (den Ende Februar 2014 abgesetzten ukrainischen Präsidenten) Janukowitsch singen werden und dazu aufrufen, alle Ukrainer aufzuhängen.” Diese Einschätzung wurde im Netz diskutiert, und ein Nutzer drohte Burda Russland: “,Computerbild Russia’, in diesem Fall sucht Euch einen neuen Mitarbeiter. Wir schicken einen Brief an die Staatsanwaltschaft.”

Der Ex-Vorsitzende des russischen Journalistenverbandes, Igor Jakowenko, hat jetzt im Gespräch mit dieser Redaktion angekündigt, er werde wegen der Affäre Schulgin den Deutschen Journalisten-Verband einschalten. Mit Schulgin zusammen baue er gerade eine Interessenvertretung auf. Ihr Name: “Journalistische Solidarität”.

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Dieser Deutsche genießt Putins Vertrauen

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Dieser Deutsche genießt Putins Vertrauen

Im Kreml geht er ein und aus: Matthias Warnig, einer der mächtigsten Männer der russischen Wirtschaft, gehört zu Putins letzten großen Vertrauten im Westen. Die Geschichte einer Männerfreundschaft.

Von Dirk Banse, Florian Flade, Uwe Müller, Eduard Steiner und Daniel Wetzel

Wenn Wladimir Putin in der deutschen Hauptstadt weilt, dann ist ein Abstecher an die Fuggerstraße in Berlin-Schöneberg ein Muss. Denn dort, wo sich Restaurants, Bars und Cafés aneinanderreihen und Regenbogenflaggen im Wind flattern, ist das Lieblingsrestaurant des russischen Präsidenten, das “Café des Artistes”.

“Was der Präsident bestellt, ist eher unspektakulär”, verrät eine junge Serviererin. Entweder esse er Zürcher Geschnetzeltes für 18,50 Euro oder Bœuf Stroganoff für 21 Euro. “Dazu trinkt er ,Radeberger Pils’ aus Sachsen”, erzählt die Dame, angeblich das Lieblingsbier von Putin. “Der Präsident bestellt nie die teuersten Speisen.”

Putins Treue zum “Café des Artistes” ist nicht zufällig, sie hat mit dem Inhaber und Chefkoch Stefan Warnig zu tun. Den hat Putin schon als kleinen Jungen mit seinen eigenen zwei Töchtern spielen sehen. Stefans Vater ist schließlich ein sehr guter Freund des russischen Präsidenten: Matthias Warnig.

Der Deutsche, dem der russische Präsident vertraut, ist 59 Jahre alt, mittelgroß, von bulliger Statur, sein Haarkranz ist silbergrau. Hierzulande glauben die meisten, dass kein Deutscher einen derart engen Draht zum russischen Präsidenten hat wie Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). Doch das ist ein Trugschluss.

Warnigs Beziehung zu Putin ist älter und schon gewachsen, bevor der Russe zu einem der mächtigsten Männer der Welt aufstieg. Warnig trifft den Staatspräsidenten weitaus häufiger als Schröder. Oder als die meisten Staats- und Regierungschefs. Während sie oft monatelang auf eine Audienz warten müssen, geht Warnig im Kreml ein und aus. Die beiden Männer sähen sich “in der Regel alle drei Wochen”, heißt es in Moskau.

Warnig und Putin haben viele Gemeinsamkeiten

Matthias Warnig und Wladimir Putin, das ist die Geschichte zweier Menschen, die viel miteinander verbindet. Beide sind sie aufgewachsen in sozialistischen Bruderstaaten, beide sind ehemalige Geheimdienst-Agenten, deren Lebenswege sich vor fast einem Vierteljahrhundert eher zufällig kreuzten. Man fand sich sympathisch, verbrachte viel Zeit miteinander, half sich. Und als Putin ins Zentrum der Macht rückte, stieg Warnig zu einem der mächtigsten Wirtschaftsmanager Russlands auf. Der Deutsche ist einer der wenigen, denen der misstrauische Mann im Kreml noch vertraut.

So einzigartig das Verhältnis zwischen Putin und Warnig ist, so hat es doch auch etwas Exemplarisches. Es verdeutlicht die enge persönliche Verflechtung zwischen der deutschen und russischen Wirtschaft und Politik. Und es steht für jahrzehntelang gewachsene Beziehungen, die es auf fast allen Ebenen gibt. Sie sind der Grund, weshalb die deutsche Wirtschaft sich so schwer mit Sanktionen gegen Russland tut. Manager vom Schlag Warnigs haben sich enge Netzwerke aufgebaut. Netzwerke, deren Arbeit nun durch den Konflikt in der Ukraine erschwert wird, ja vielleicht sogar gefährdet ist.

Auch für Warnig kommen die Einschläge immer näher. Am Donnerstag dieser Woche hat die Europäische Union die wichtigsten Eigner der Rossija Bank auf die schwarze Liste gesetzt: die Putin-Vertrauten Jury Kowaltschuk und Nikolai Schamalow. Zuvor hatten schon die USA das Vermögen der Rossija Bank einfrieren und Transaktionen mit ihr verbieten lassen.

Warnig kennt die beiden Banker gut. Denn er ist seit 2003 Aufsichtsratsmitglied des Kreditinstituts, das als “Bank der Putin-Freunde” gilt. Von den europäisch-amerikanischen Strafmaßnahmen ist außerdem das zweitgrößte Kreditinstitut des Kreml-Staates betroffen, die VTB-Bank mit knapp 100.000 Mitarbeitern. Und auch hier ist Warnig als Kontrolleur mit von der Partie.

Wie ist Warnigs Nähe zu Putin entstanden?

Es gibt aber noch wichtigere Mandate, die der Deutsche innehat – und zwar in der Rohstoffindustrie. Warnig sitzt im Aufsichtsrat von Rosneft, des größten Energiekonzerns der Welt. Auf das Unternehmen entfallen fünf Prozent der globalen Rohöl-Förderung. In Russland wird das Öl von Transneft transportiert, die über ein 70.000 Kilometer langes Leitungsnetz verfügt. Auch hier im Kontrollgremium: Warnig.

Bei Rusal, dem weltgrößten Aluminiumhersteller, ist er sogar Aufsichtsratschef. Den Job soll ihm Putin persönlich verschafft haben, um den heftigen Streit zwischen den Eigentümern, allesamt mächtige Oligarchen, zu schlichten. Beim Gasexport redet er in operativer Funktion mit, als Geschäftsführer der Nord Stream AG, der Betreibergesellschaft der Gaspipeline, die von der russischen Hafenstadt Wyborg durch die Ostsee ins deutsche Lubmin führt. Hier schließt sich der Kreis. Denn Vorsitzender des dortigen Aktionärsausschusses ist noch ein anderer Putin-Freund: Gerhard Schröder.

Die Nähe dieser drei Männer zueinander wurde erst kürzlich dokumentiert. Es war am Abend des 28. April 2014 gegen 22.30 Uhr, als der Altbundeskanzler vor den prunkvollen Jussupow-Palast in Sankt Petersburg auf die Straße trat. Dann rauschte eine schwere schwarze Mercedes-Limousine heran. Aus dem Wagen stieg Wladimir Putin, der Schröder herzlich umarmte und nachträglich zum 70. Geburtstag gratulierte.

Die Fotos dieser Szene sorgten in Deutschland für Empörung. Schließlich steuerte die Ukraine gerade auf einen Bürgerkrieg zu, maßgeblich entfacht durch Russlands Unterstützung für die Separatisten in Donezk und Lugansk. Auf den Fotos war auch ein Mann im dunklen Anzug zu sehen, den in Deutschland kaum jemand zuordnen konnte. Matthias Warnig, der zu der Gala eingeladen hatte.

Warnig und seine Rolle werfen Fragen auf. Wie konnte dieser Mann, über den so wenig bekannt ist, zu einer der Schlüsselpersonen in der russischen Wirtschaft aufsteigen? Vor allem: Wie ist diese Nähe zu Wladimir Putin entstanden? Die Suche nach den Antworten führt weit zurück.

***

Das Jahr 1974. Die Stasi-Offiziere, die gezielt an den Schüler aus der Niederlausitz herangetreten sind, haben leichtes Spiel. Es gehe um nichts weniger als den Sozialismus, den es zu schützen und zu verbessern gelte, erklären sie dem Pennäler. Dafür bräuchten sie talentierte Leute wie ihn. Matthias Warnig, 18 Jahre alt und FDJ-Sekretär, willigt sofort ein. Er verpflichtet sich, hauptamtlicher Mitarbeiter zu werden.

Damit ist der weitere Lebensweg des jungen Mannes vorgezeichnet. Das Ministerium entscheidet für ihn, was er werden soll und was er dafür zu tun hat. Noch kurz vor seinem Abitur stellt er einen Aufnahmeantrag für die SED. Statt Wehrdienst zu leisten, absolviert er eine halbjährige Grundausbildung beim Stasi-Wachregiment.

Am 1. April 1975 beginnt seine Karriere. Warnig wird als Agent in der Auslandsspionageabteilung HVA ausgebildet, er soll ein OibE, ein “Offizier im besonderen Einsatz”, werden. Dafür muss er zur Tarnung ein ziviles Leben führen. Er studiert an der Ostberliner Hochschule für Ökonomie, wo die Kommilitonen nicht wissen, dass sie es mit einem Geheimdienstler zu tun haben. Sein Deckname bei der Stasi: “Ökonom”.

Ein OibE bleibt Warnig auch, als er nach dem Studium vom DDR-Ministerium für Außenhandel eingestellt wird. Es ist eine perfekte Arbeitsstätte für Industriespionage. Privat verläuft das Leben ebenfalls in festen Bahnen. Warnig heiratet an seinem 24. Geburtstag, bald darauf werden sein Sohn Stefan und seine Tochter Claudia geboren.

Wenig später erfüllt sich für den jungen Vater der Traum eines jeden Spions. Er wird ins Feindesland geschickt. Mitsamt Familie siedelt Warnig nach Düsseldorf über und bezieht eine Wohnung im Stadtteil Bilk. Offiziell arbeitet der systemtreue Mann in der DDR-Handelsmission, in der Graf-Adolf-Straße, unweit des Hauptbahnhofs. Unter der Legende eines Handelsvertreters spioniert er. Sein Deckname nun: “Arthur”.

Warnig ist talentiert. Seine lockere, unkomplizierte Art macht es ihm leicht, Kontakte zu knüpfen. Der Stasi-Mann, in der brandenburgischen Provinz geboren, versteht es, sich schnell auf ein neues Umfeld einzulassen. Ob Krupp, Rheinbraun und Thyssen, ob BASF, Data Becker oder Dresdner Bank – der junge Agent gelangt mühelos an sensible Informationen.

Große berufliche Zukunft im verachteten Kapitalismus

Während andere Stasi-Spitzel nach dem Fall der Mauer wegen ihrer Vergangenheit auf Karrieren verzichten müssen, bedeutet die Agententätigkeit für Warnig genau das Gegenteil. Sie ist der erste unverzichtbare Baustein für eine große berufliche Zukunft im verachteten Kapitalismus. Warnig war schon immer in beiden Systemen unterwegs. Da ist es auch nicht mehr hinderlich, dass sein Aufenthalt in der Bundesrepublik abrupt endet.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz schöpft Verdacht und überwacht den Mann aus dem Osten. Während der Observationen sprechen die Verfassungsschützer ungeschützt über den Behördenfunk. Die Stasi hört mit. Im August 1989 holt sie Warnig zurück in die Heimat, wo er noch für einige Monate in der Ostberliner Geheimdienst-Zentrale arbeitet.

Noch einen zweiten positiven Nebeneffekt bringt Warnigs erfolgreiche Stasi-Zeit. Er ist bestens vernetzt im DDR-System, ohne allzu sichtbar gewesen zu sein. Als die Regierung von SED-Ministerpräsident Hans Modrow ihre Geschäfte aufnimmt, heuert Wirtschaftsministerin Christa Luft Warnig als Referenten an. Luft sagt, Warnig sei ihr von der Personalabteilung empfohlen worden und habe sich “tatsächlich als versierter und loyaler Fachmann” erwiesen. Kurz darauf sitzt Warnig bei Verhandlungen über die deutsch-deutsche Wirtschafts- und Währungsunion mit am Tisch.

Warnig wird wertvoll für die Dresdner Bank

Dort kommt es zu einer weiteren schicksalhaften Begegnung. Während einer Dienstreise nach Bonn begegnet er Wolfgang Röller, dem Vorstandschef der Dresdner Bank. Warnig versteht es sogar, den charismatischen Bankmanager für sich zu begeistern. Röller sucht händeringend Personal für die Expansion gen Osten. “Was wollen Sie machen, wenn es die DDR nicht mehr gibt?”, fragt Röller den jungen Mann. Warnig, 35 Jahre alt, ist planlos und dankbar, als der Bankchef ihm ein Angebot unterbreitet.

Am 20. Mai 1990 startet Warnig beim neuen Arbeitgeber. Aufgabenschwerpunkt: Ostdeutschland und die Treuhandanstalt. Sein Vorgesetzter ist Bernhard Walter, im Vorstand zuständig für die DDR und den Ostblock und später Röllers Nachfolger. Der schickt den neuen Schützling auch nach London, damit er das Bankgeschäft besser kennenlernt.

Warnigs Lernbereitschaft und sein Verständnis vom westlichen System, gepaart mit seiner Erfahrung und seinem Netzwerk im Osten machen ihn schnell wertvoll für die Bank. Schon ein Jahr nach seinem Start hat Walter eine außerordentlich wichtige Mission für ihn: “Sie sprechen doch Russisch?” Nur schlechtes Schulrussisch, erwidert Warnig. Walter entgegnet: “Sie beherrschen die Sprache, es steht ja in Ihrem Lebenslauf.”

Wieder ist Warnig dabei, als Geschichte geschrieben wird: Ob Umschuldungsverhandlungen mit der Sowjetunion oder die ersten Gehversuche der Dresdner Bank im neuen Russland – sein Rat ist gefragt. Vorstand Walter vertraut ihm, beauftragt ihn damit, sich überall im Lande umzuschauen. Er soll sich um nichts anderes kümmern, als die Entwicklung genau zu verfolgen. Anschließend rät Warnig seiner Bank dazu, ein Signal zu setzen. Sein Vorschlag: die Eröffnung einer Repräsentanz in Sankt Petersburg. Die Frankfurter Zentrale willigt ein. Der Projektleiter wird: Warnig.

***

Sankt Petersburg, Oktober 1991. Geduldig sitzt Matthias Warnig im kargen Vorzimmer eines Büros in der Stadtverwaltung. Er hofft, dass ihn endlich der Mann hineinbittet, der hinter der Tür arbeitet: ein gewisser Wladimir Putin. Der ist noch kein Spitzenpolitiker, sondern ein aufstrebender Beamter, zuständig für Außenbeziehungen. Schon damals lässt der heutige Präsident seine Gäste warten. Acht Stunden sind es für Warnig. Der weiß, dass man in Russland “einen langen Atem braucht”, wie er 2007 der “Welt” sagen wird. Wer etwas von jemand anderem braucht und es nicht befehlen kann, muss auch im neuen Russland warten. Und Warnig will etwas Wichtiges von Putin. Ende des Jahres soll die erste Repräsentanz der Dresdner Bank in Sankt Petersburg eröffnet werden. Es ist seine erste Begegnung mit dem Mann, der fortan eine zentrale Rolle in seinem Leben einnehmen sollte.

Weil das Russisch des Deutschen miserabel ist, hat er eine Dolmetscherin dabei. Putin hört ihr einige Minuten zu, bevor er die Geduld verliert. “Lassen Sie den Quatsch, sprechen wir Deutsch, für Übersetzungen habe ich keine Zeit”, herrscht er Warnig an. Der kann mit dem ruppigen Ton gut umgehen. Das Gespräch war jedenfalls ein Erfolg. Die Dresdner Bank kann wie geplant am 12. Dezember 1991 ihre Repräsentanz eröffnen.

Warnig lebt im Hotel, seine Familie bleibt in Deutschland. Vor allem an den Wochenenden fühlt er sich einsam. Putin lädt ihn oft zu sich auf die Datscha ein. Man spricht Deutsch, trinkt deutsches Bier, friesisch-herbes “Jever”, weil Putins Lieblingsmarke “Radeberger” nicht verfügbar ist. Die beiden stellen fest, dass ihr Leben ganz ähnlich verlaufen ist. Beide stammen aus einer Generation, beide heirateten jung, beide haben zwei Kinder. Von Mal zu Mal werden die Gespräche vertrauter, sie wissen, dass sie in dieser neuen Welt so etwas wie Seelenverwandte sind.

Gemeinsamer Winterurlaub der Warnigs und Putins

Ein Schicksalsschlag schweißt die beiden noch enger zusammen. Putins Frau Ljudmila verunglückt 1993 lebensgefährlich bei einem Verkehrsunfall. Warnig handelt sofort. Ljudmila wird in Deutschland operiert, die Dresdner Bank übernimmt die Kosten. Seinem Freund Wladimir vermittelt Warnig zudem die Teilnahme an einem Seminar in Königstein nahe Frankfurt. Es geht um das für Sankt Petersburg wichtige Thema Bankenaufsicht. Putin dürfte solche Engagements als Freundschaftsbeweise gewertet und bis heute nicht vergessen haben.

Damals jedenfalls zeigt er sich erkenntlich: Die Dresdner Bank ist 1993 das erste westliche Geldinstitut in Russland, das eine Vollbank eröffnen kann. Alles “po blatu”, wie es auf Russisch heißt. Man bekommt etwas, weil man sich kennt, schätzt und mag. Putin ist Warnig dankbar, die Dresdner Bank ebenfalls. “Freundschaften schaden nicht”, soll Warnigs Credo sein, wie ein Weggefährte erzählt.

Die Verbindung zwischen den beiden Ex-Agenten hält auch, als Putin sich 1996 umorientieren muss. Sein Förderer, der Sankt Petersburger Bürgermeister Anatoli Sobtschak, verliert die Kommunalwahl. Putin, inzwischen Vizebürgermeister, geht deshalb nach Moskau und übernimmt einen Job in der Präsidialverwaltung des Kremls. Schon im folgenden Winter verbringen die Familien Putin und Warnig gemeinsam einen Winterurlaub im schweizerischen Davos. Von jetzt an dauert es noch drei Jahre, bis Warnig der Freund eines der mächtigsten Männer der Welt ist. Und Warnig allmählich einer der wichtigsten Drahtzieher in der russischen Wirtschaft. Selbst als seine Stasi-Vergangenheit 2005 öffentlich wird, kann ihm das nichts mehr anhaben. Er ist längst zu wichtig.

***

Heimisch ist Warnig in Russland letztendlich nicht geworden. Im deutschen Südwesten hat er Wurzeln geschlagen. Er lebt in einem stattlichen Anwesen bei Freiburg, in idyllischer Lage, mit Blick auf eine Burg. Gemeinsam mit seiner zweiten Frau Elena, einer Russin, die er Ende der 90er-Jahre in Sankt Petersburg kennenlernte. Das Paar hat noch heute am Rande von Moskau eine Eigentumswohnung in einem zwölfgeschossigen Hochhaus. Als ihr gemeinsames Kind schulpflichtig wurde, verließen sie 2006 die Stadt. Der Junge sollte in Deutschland aufwachsen. Vertraute der Familie berichten, Warnig habe zunächst mit Hamburg oder Berlin geliebäugelt, sich dann aber für ein Domizil in der Nähe der Schweizer Grenze entschieden – wegen des guten Wetters dort.

Es soll auf Dauer sein. Mit der “MW Invest GmbH & Co. KG”, der Vermögensgesellschaft der Familie, an der alle Kinder beteiligt sind, engagiert sich Warnig im Breisgau im Geschäft mit Immobilien. Den Grundstock dafür hat er in Russland gelegt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat er prächtig verdient. Seine Firma soll inzwischen ein Vermögen von mehr als zehn Millionen Euro verwalten. Warnig ist im real existierenden Kapitalismus angekommen. In jener Gesellschaft, die er einst so gehasst hatte.

***

Über all das in der Öffentlichkeit sprechen, das will Warnig nicht. Er meidet die Medien, seine Interviews sind rar. Gefragt, ob er denn Putins Handynummer habe, sagte er einmal: “Die habe ich natürlich nicht.” Und sowieso: Zum Verhältnis mit dem Präsidenten äußert er sich bis heute nicht. Warnig ist keiner, der aus dem Nähkästchen plaudert. Zur Freundschaft gehört eben auch, dass man darüber schweigt. Nur über Umwege ist zu hören, dass Warnig die Rolle Russlands in der Ukraine durchaus kritisch sieht. “Er ist einer der wenigen, die Putin offen die Meinung sagen.”

Dem Verhältnis der beiden Männer zueinander, ihrer Freundschaft, tut das offenbar keinen Abbruch. Längst wollte Warnig seinen Posten als Geschäftsführer von Nord Stream aufgegeben haben. Die Pipeline ist gebaut, jetzt muss sie nur noch gewartet werden. Doch die Aktionäre und wohl auch Putin haben den Manager gebeten, zu bleiben. Zu angespannt ist die Lage. In diesen schwierigen Zeiten ist der Mann aus Brandenburg für Putin noch wichtiger geworden.

Das zeigt auch ein anderer Posten, für den Putin Warnig im Visier hat. Der Staatskonzern Gazprom soll radikal umgebaut werden. Wenn Putin grünes Licht für das Projekt gibt, könnte dabei Matthias Warnig so etwas wie sein Chefberater werden. Ablehnen würde er ein solches Angebot vermutlich nicht. Es fielen ihm “keine rationalen Gründe ein”, sagte Warnig einmal, “warum man in Russland den Ast absägen sollte, auf dem man sitzt”.

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Dieser Mann kennt alle Geheimnisse der Bundesrepublik

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Dieser Mann kennt alle Geheimnisse der Bundesrepublik

Klaus-Dieter Fritsche leitet jeden Dienstag die nachrichtendienstliche Lage im abhörsicheren Raum in der vierten Etage des Kanzleramts. Neuerdings geht es um die große Frage: Wie bewahrt man Frieden?

Von Dirk Banse, Manuel Bewarder , Florian Flade und Uwe Müller

Dienstags, Punkt zehn Uhr, geht es im Kanzleramt um die Geheimnisse der Republik. Jede Woche sitzen etwa 30 Personen im abhörsicheren Raum in der vierten Etage. Auch Kanzleramtschef Peter Altmaier ist fast immer dabei. Hoch konzentriert folgen sie besonders den Vorträgen dreier Männer. Und die drehen sich neuerdings vor allem um die eine, ganz große Frage: Wie bewahrt man den Frieden? Oder vielmehr: Gibt es Krieg?

Was sich dort in den wenigen Stunden bis zum frühen Nachmittag abspielt, in der sogenannten Nachrichtendienstlichen Lage, gehört zum Bestgehüteten der Republik: Die Chefs der drei deutschen Geheimdienste – Bundesnachrichtendienst, Verfassungsschutz und Militärischer Abschirmdienst – erstatten Bericht. Anschließend kommt man meist noch einmal kurz im kleinen Kreis zusammen. Und zwar informell.

Was einst kaum mehr als eine wöchentliche Routine war, ist mittlerweile wieder so wichtig wie im Kalten Krieg. Ob in Syrien, im Irak oder in der Ukraine, es brennt an vielen Stellen auf der Welt. Die internationalen Partner blicken dabei immer häufiger nach Berlin, die Kanzlerin muss Position beziehen und somit ihrer Rolle als mächtigste Frau der Welt gerecht werden.

Je größer die Katastrophe, desto wichtiger der Spion

Der Mann, der das wöchentliche Treffen der Nachrichtendienstchefs leitet, gibt Merkel wichtige Hinweise. Klaus-Dieter Fritsche ist verantwortlicher Staatssekretär für Geheimdienste im Kanzleramt. Brille, Halbglatze, schmale Lippen – bei diesem äußerlich unscheinbaren Beamten laufen die Fäden zusammen. Als er im Januar sein Amt antrat, konnte Fritsche, der zumeist im Hintergrund bleibt, kaum ahnen, wie wichtig sein Job einmal werden würde.

Jahrelang hatten die Geheimen ein Schattendasein gefristet. Doch je größer die Katastrophen, desto wichtiger werden sie. “Angesichts der aktuellen Krisen in der Ukraine und im Irak arbeiten die deutschen Sicherheitsbehörden auf Hochtouren”, sagte Fritsche der “Welt am Sonntag”. Das Erstarken der Terrormiliz IS habe die Dienste überrascht. “Die besondere Rolle, die der IS mittlerweile im Nordirak und in Syrien spielt, war nicht prognostizierbar”, erklärte er. Die Erkenntnisse der Nachrichtendienste würden aufgrund der Krisen bedeutender. “Ihre Informationen sind eine wichtige Basis für die Entscheidungen der Bundesregierung.” Deutschland erlebt somit eine Renaissance der Dienste. Ausgerechnet.

Denn schon aus historischen Gründen ist das Verhältnis zwischen Regierung und den Geheimen hierzulande seit je schwierig. Zuerst die Gestapo, dann die Stasi. Gleich zwei totalitäre Regime haben ihre Geheimdienste als Unterdrückungsinstrumente gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt. Das ist tief im kollektiven Bewusstsein der Deutschen verankert und ein Grund dafür, dass die meisten deutschen Kanzler stets demonstrativ Abstand zu den Diensten wahrten.

Die Mächtigen halten lieber Abstand

Das trifft auch auf Kanzlerin Merkel mit ihrer Sozialisierung in der DDR zu. In ihrer neunjährigen Amtszeit hat sie die BND-Zentrale in Pullach kein einziges Mal besucht. Von Helmut Schmidt ist gar der spöttische Satz überliefert, er fühle sich durch die “Neue Zürcher Zeitung” besser über die Welt informiert als durch die Berichte des BND. Deutlicher kann man seine Geringschätzung kaum ausdrücken.

Zuletzt haben dann Fehltritte das Image der Sicherheitsorgane den grundsätzlichen Glauben an die Fähigkeiten der Geheimdienstler ramponiert. Erst stürzte der NSU den Verfassungsschutz der Bundesrepublik in seine wohl tiefste Krise. Jahrelang konnten die Rechtsterroristen ungehindert durch Deutschland ziehen und morden. Seitdem im vergangenen Jahr der Amerikaner Edward Snowden zudem die globalen Überwachungsmethoden westlicher Geheimdienste enthüllte, muss sich auch der Bundesnachrichtendienst rechtfertigen wie niemals zuvor.

Selbst führende Staatsrechtler erklärten seine Arbeit für verfassungswidrig. Und die Rufe, den Auslandsnachrichtendienst BND abzuschaffen, haben es über die Linke sogar in den Bundestag geschafft. “In Ländern wie den USA, Großbritannien oder Frankreich haben die Geheimdienste ein ganz anderes Standing als bei uns”, bilanziert der ehemalige BND-Präsident Hans-Georg Wieck. “Deren Regierungschefs haben auch nicht solche Berührungsängste wie in Deutschland.”

Rohstoff für Entscheidungen

Diametral zu dieser Vorsicht steht der Bedarf der politischen Entscheider hierzulande an exklusiven, nicht öffentlichen Informationen und Einschätzungen in einer unübersichtlichen Weltlage, die sich manchmal im Stundentakt ändert: Was plant Russlands Präsident als Nächstes? Mit welchen Risiken muss man rechnen, wenn man Waffen an die Kurden liefert? Und wird sich vielleicht schon morgen ein Selbstmordattentäter des “Islamischen Staates” (IS) hierzulande in die Luft sprengen?

Das sind Fragen, auf die es nicht die eine Antwort gibt. Aber die Geheimdienste helfen bei der Einschätzung. Denn sie können mit Methoden arbeiten, die anderen Beschaffern von Informationen wie dem diplomatischen Dienst oder Journalisten verschlossen sind: Sie überwachen Telefone und E-Mails und werten Satellitenbilder aus. Die weltweit gesammelten Erkenntnisse werden analysiert und bewertet. So entstehen, wie es im Geheimdienst-Jargon heißt, Lagebilder. Sie sind der Rohstoff für politische Entscheidungen.

Das hat inzwischen auch die Kanzlerin erkannt. Nach ihrer Wiederwahl im vergangenen Herbst schuf sie die Position Fritsches – die NSA-Affäre hatte ihr unmissverständlich vor Augen geführt, dass es einen koordinierenden Kopf für die Arbeit der Geheimdienste brauchte. Mit dem Staatssekretär schuf Merkel eine übergeordnete Instanz. Fritsche lässt sich fast alle Berichte vom BND vorlegen, dem einzigen Dienst, der direkt dem Kanzleramt unterstellt ist. Über die jeweils zuständigen Ministerien erfährt er aber auch das Wichtigste von Verfassungsschutz und Militärischem Abschirmdienst. “Sekretär 007″ nennt mancher ihn aufgrund seiner Position.

Eine Lobeshymne wird als Frechheit empfunden

Gezielt fiel Merkels Wahl auf den gebürtigen Bamberger. Verlässlich, konservativ, geradlinig – kaum jemand schien besser qualifiziert für den neuen Posten im Kanzleramt. Der ehemalige Verwaltungsrichter hat eine steile Beamtenlaufbahn hingelegt. Vom Büroleiter des damaligen bayerischen Innenministers Günther Beckstein stieg er nach nur einem Jahr zum Vizepräsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz auf. In der ersten großen Koalition unter Angela Merkel war Fritsche schon einmal im Kanzleramt, aber als Abteilungsleiter. 2009 wechselte er dann ins Innenministerium und wurde Staatssekretär.

Unumstritten ist er dennoch nicht. Als Fritsche Vizepräsident des Verfassungsschutzes war, erklärte er, dass es “keine Anhaltspunkte” für eine “braune RAF” gebe. Zu diesem Zeitpunkt hatte der NSU aber schon mehrere Jahre lang Menschen hingerichtet. Als Fritsche schließlich vom Untersuchungsausschuss befragt wurde, hielt er trotz der unentdeckten Mordserie eine Lobeshymne auf die Sicherheitsbehörden – was viele Abgeordnete als Frechheit empfanden.

Geschadet hat ihm das aber offensichtlich kaum. eine Lehre aus der NSA-Affäre, die dem damaligen Kanzleramtschef Ronald Pofalla gefährlich nahe kam. Doch diese Aufgabe, insbesondere die Betreuung des Untersuchungsausschusses zum Ausspähskandal, mag zwar wichtig bleiben, ist aber angesichts der großen Krisen zweitrangig geworden. Fritsches Jobbeschreibung hat sich innerhalb weniger Monate radikal verändert.

Immer mehr Fragen zu dem Krisengebieten

Jetzt geht es darum, dass die Maschine möglichst reibungslos funktioniert. Die Taktzahl, in dem die Kanzlerin mittlerweile über die Erkenntnisse der Dienste auf dem Laufenden gehalten wird, hat sich enorm erhöht. Seit dem Sommer 2013 hat sich die Zahl der Berichte des BND an das Bundeskanzleramt zu “Ukraine/Russland” nach Informationen dieser Zeitung verdoppelt. Die Menge der Mitteilungen zum Irak schnellte innerhalb der vergangenen Wochen um ein Viertel empor. Mit Blick auf den syrischen Bürgerkrieg liegt die Zahl der Berichte seit Jahren auf einem sehr hohen Niveau.

Die schriftlichen Anfragen aus dem Deutschen Bundestag hierzu stiegen im vergangenen Jahr aber um ein Drittel, die Unterrichtungen von Bundestagsabgeordneten haben sich beinahe verzehnfacht.

Auch der Melde-Rhythmus im Kanzleramt selbst ist schneller geworden. Täglich in der Früh unterrichtet Fritsche mit seinem Team die Hausspitze über die Entwicklung in den Krisengebieten, im Regelfall berichtet er dann an Kanzleramtschef Altmaier, wenn es brisant wird, gehen seine Infos auch direkt an die Kanzlerin. Im Laufe des Tages reicht der Apparat oftmals weitere Informationen nach. Immer wieder gibt es Rückfragen zu beantworten. Fritsche muss außerdem das Verteidigungsministerium und das Auswärtige Amt unterrichten. Alles, was ihn erreicht und was er weiterleitet, läuft über abhörsichere Leitungen.

Schielt Russland auf die baltischen Staaten?

Gerade für den BND ist der Fokus auf die Außenpolitik eine Gelegenheit, sich zu rehabilitieren. In beiden Krisenregionen – Ukraine und Irak – verfügt der BND nach Einschätzung von Sicherheitspolitikern über sehr gute Erkenntnisse.

Nach offiziellen Angaben nahmen 17.000 Soldaten aus Luftwaffe, Marine und Heer teil. Nach außen hin sollte der Eindruck erweckt werden, es handele sich dabei um eine Militärübung in üblicher Größe, nichts Besonderes also. Doch der BND entdeckte im Umfeld des offiziellen Manövers weitere geheime Übungen, an denen zusätzlich rund 30.000 Soldaten beteiligt waren.

Die Provokation ging schließlich noch weiter: Russland legte den Erkenntnissen des Geheimdienstes zufolge kurzzeitig Radaranlagen der Nato lahm und feuerte eine Kurzstreckenrakete vom Typ “Iskander” in Richtung Litauen. Bestückt mit der Attrappe eines Nuklearsprengkopfes ging sie erst kurz vor der Grenze zum Nachbarland zu Boden. “Zapad 2013″ war die umfangreichste Militärübung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Moskau verhalte sich immer aggressiver, verkündete der BND – eine Warnung, die sich bewahrheiten sollte, wie die Ereignisse dieser Tage belegen.

Chancen zur Rehabilitierung für die Dienste

Aufgrund solcher Erkenntnisse könnte der Auslandsnachrichtendienst vor einer Renaissance stehen. Er könnte in eine Position im politischen Zusammenspiel zurückkehren, die er bereits während der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder innehatte. Dieser ließ sich während seiner Amtszeit immer wieder mal direkt vom damaligen BND-Präsidenten August Hanning in Kenntnis setzen. “Ich war wenige Stunden nach den Terroranschlägen am 11. September 2001  in den USA bei Schröder, um unsere Informationen dazu vorzutragen”, erinnert sich Hanning. Auch Außenminister Joschka Fischer fragte oftmals an.

Neben dem BND steigt auch für den Verfassungsschutz, den Inlandsgeheimdienst, die Chance zur Rehabilitierung. Mehr als 2000 Islamisten aus Europa sollen sich inzwischen dem IS angeschlossen haben. Dschihadisten aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und anderen Ländern werden in der Region im Bombenbau und an Schusswaffen ausgebildet. Viele sind an Gräueltaten wie Massenerschießungen oder Enthauptungen von Geiseln beteiligt. Und einige der europäischen Terrorkämpfer kehren, radikalisiert und kampferprobt, in ihre Heimatländer zurück.

Erst im Mai hatte ein Syrien-Heimkehrer im Jüdischen Museum von Brüssel vier Menschen erschossen. Der französische Extremist war zuvor über den Flughafen Frankfurt in die Europäische Union eingereist. Weil ihn die französischen Behörden nur zur verdeckten Fahndung ausgeschrieben hatten, wurde er nicht festgenommen. Der Islamist konnte ungehindert weiterreisen und ein paar Wochen später zuschlagen.

Deutschland hat Interesse an “Five Eyes”

In ganz Europa warnen Sicherheitspolitiker seitdem noch dringlicher vor der Gefahr der Dschihad-Rückkehrer. Auf der Ebene der Nachrichtendienste soll – so fordern es auch Politiker in Deutschland – die Kooperation mit den internationalen Partnern ausgebaut werden. Ein Attentat wie in Brüssel soll sich nicht wiederholen. In Deutschland bedeuten die Reisebewegungen der Islamisten nach Syrien und in den Irak eine hohe Arbeitsbelastung sowohl für den Inlands- als auch für den Auslandsdienst.

Mehr als 400 Ausreisen zählt der Verfassungsschutz. Rund 100 Islamisten sollen inzwischen zurückgekehrt sein, einige mit Kampferfahrung. Manche von ihnen sollen sich “auffällig unauffällig” verhalten.

Dieses Wissen über die Krisen im Ausland und die möglichen Folgen im Inland – all das landet auf Fritsches Schreibtisch. Umso wichtiger ist die Kooperation mit internationalen Partnern. Erst vor ein paar Tagen kehrte er aus den USA zurück. Unter anderem war er dort, um sich über die Arbeit der “Five Eyes” zu informieren – des mächtigen Nachrichtendienstverbunds, zu dem sich Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland und Amerika zusammengeschlossen haben. Von diesem Wissen möchte auch Deutschland stärker profitieren. Fritsche arbeitet deshalb an einer Vereinbarung über die künftige Zusammenarbeit. Er weiß, dass die deutschen Dienste zwar viel mitbekommen – am Ende aber immer nur über ein paar Puzzleteile des Weltgeschehens verfügen.

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Rückzug der “Putin-Versteher”

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Rückzug der “Putin-Versteher”

Vor knapp fünf Monaten berichteten wir in der „Welt am Sonntag“ über ein Netzwerk von kremlunkritischen Meinungsmachern. Dabei beleuchteten wir Organisationen wie das Deutsch-Russische Forum oder den Petersburger Dialog, in denen auffallend viele Wirtschaftslobbyisten und Putin-Freunde mitmachen. Der damalige Osteuropa-Experte des European Council on Foreign Relations, Stefan Meister, übte Kritik an beiden Formaten.

„Diese Organisationen waren einst gegründet worden, um den Dialog zwischen den Zivilgesellschaften beider Länder zu fördern. Ziel war es auch, unsere westlichen Werte wie Demokratie, Transparenz und Rechtsstaatlichkeit zu vermitteln”, sagte Meister. “Doch inzwischen werden die Organisationen auch missbraucht, um Lobbyarbeit für Wirtschaftsinteressen zu betreiben und ein positives Russland-Bild in der deutschen Öffentlichkeit zu präsentieren.“

Personen, wie der ehemalige Programmleiter des Berthold-Beitz-Zentrums Alexander Rahr, spielen in diesen Netzwerken eine Rolle. Der Politologe, der einen guten Draht zum Kreml-Herren hat und über ihn mehrere Bücher schrieb, betreut die „Zukunftswerkstatt“ im Petersburger Dialog und ist Forschungsdirektor im Deutschen-Russischen Forum. Zugleich dient er dem Gazprom-Partner Wintershall als „Senior Adviser“. Er mied nach unserem Artikel plötzlich die Öffentlichkeit – und das, obwohl er 18 Jahre lang Russland-Experte in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) war und dort seit 2010 das renommierte Berthold-Beitz-Zentrum geleitet hatte. Auch sein Nachfolger dort verschwand nach unserer Veröffentlichung von der Bildfläche: Ewald Böhlke, der zu DDR-Zeiten Philosophie an der Humboldt-Universität studiert und 1992 zusammen mit einem enttarnten Stasi-IM ein Buch verfasst hatte. Er kehrte zu seinem alten Arbeitgeber Daimler zurück.

Die DGAP zog ebenfalls Konsequenzen. Das Berthold-Beitz-Zentrum, von der Deutschen Bank und dem Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft gefördert, wurde geschlossen. Eberhard Sandschneider, Forschungsdirektor bei der DGAP, erklärt das so: „Wir haben eine dauerhafte Finanzierung gesucht.“ Für Ost- und Mitteleuropa sowie Zentralasien ist nun das Robert Bosch-Zentrum innerhalb der DGAP zuständig. Es wird je zur Hälfte von der Robert Bosch Stiftung und dem Auswärtigen Amt finanziert. Neben wissenschaftlicher Analyse bietet das Robert-Bosch-Zentrum auch Politikberatung für deutsche Entscheidungsträger an. „Wir sind inhaltlich unabhängig“, erklärt Sandschneider. Als Garant dafür gilt auch der neue Programmleiter für Osteuropa und Zentralasien. Sein Name: Stefan Meister. Der Mann, der in der „Welt am Sonntag“ die Lobbyarbeit für Wirtschaftsinteressen im Deutsch-Russischen Forum und im Petersburger Dialog kritisiert hatte.

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Kouachi-Brüder standen auf deutscher Terrorliste

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Kouachi-Brüder standen auf deutscher Terrorliste

Die Täter von Paris standen bei deutschen Behörden namentlich im Computer. Sie hatten zwar keinen Kontakt zur deutschen Dschihadisten-Szene, doch ist die Terrorgefahr hierzulande ebenfalls gestiegen.

Von Dirk Banse, Martin Lutz,  Uwe Müller

Kaum waren die Namen der Attentäter bekannt, hakten die deutschen Sicherheitsbehörden in Paris nach. Sie wollten umgehend wissen, ob die Terroristen Kontakte in die hiesige Dschihadistenszene hatten. Die Entwarnung kam rasch. Ein Vertreter der Berliner Sicherheitskreise sagte: “Unsere französischen Kollegen teilten uns mit, dass die erfasste Kommunikation keine deutsche Kennung hat. Es wurden auch keine Telefonate mit der deutschen Vorwahl 0049 registriert.”

Die Erleichterung in Berlin war groß. Zumindest eine konkrete Bedrohung, dass es zu ähnlichen Szenen wie im Nachbarland kommen könnte, war damit weniger wahrscheinlich. Die deutschen Sicherheitsbehörden wussten zu diesem Zeitpunkt allerdings längst, dass die Brüder Saïd und Chérif Kouachi, 34 und 32 Jahre alt, als gewaltbereite Islamisten galten. Ihre Daten waren in deutschen Computern gespeichert. Frankreich hatte die Namen ins Schengener Informationssystem eingespeist.

Wären die Kouachi-Brüder nach Deutschland gereist und dabei in eine Polizeikontrolle geraten, hätte man dies den Franzosen gemeldet. Die Kooperation der beiden Länder gilt als vorbildlich. Das zeigte sich besonders in dieser Woche, in der die Franzosen ihre Erkenntnisse ständig an die Deutschen übermittelten. Sicherheitskreisen zufolge würden andere EU-Staaten in vergleichbaren Situationen deutlich zurückhaltender agieren. Während die Deutschen fast ausschließlich auf die Informationen der befreundeten Geheimdienste angewiesen waren, hatten amerikanische Kollegen eigene Erkenntnisse. Sie unterrichteten die Partner in Europa darüber, dass einer der Kouachi-Brüder 2011 im Jemen in einem Terrorcamp von al-Qaida ausgebildet worden war. Er soll sich auch im Sultanat Oman aufgehalten haben, wo die Gesetze der Scharia gelten. Die Brüder standen auf der Flugverbotsliste der Amerikaner.

Das Bundeskriminalamt (BKA) hat inzwischen eine interne Analyse zur Bedrohungslage erarbeitet. Besondere Formen der Islamkritik können sich demnach “bundesweit als Tatimpuls für islamistisch motivierte Gewalt gegen Privatpersonen, Medien(vertreter), öffentliche Sicherheitsorgane und deren Personal eignen”, heißt es in dem Papier. Das BKA schließt insbesondere Terroranschläge auf Redaktionen deutscher Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender nicht aus. Dazu könne es “jederzeit” kommen. Seit dieser Einschätzung patrouillieren Sicherheitskräfte vor Medienhäusern, insbesondere in Berlin und Hamburg. Die Wiesbadener Behörde befürchtet, dass Terroristen auf “möglichst hohe Opferzahlen und ein Maximum an infrastrukturellem und wirtschaftlichem Schaden” zielen – “bei größtmöglicher medialer Aufmerksamkeit”.

Beunruhigend sei, heißt es in Sicherheitskreisen, dass die Behörden zu wenig Personal hätten, um alle als besonders gefährlich eingestuften Dschihadisten lückenlos zu überwachen. Etwa 550 von ihnen sind in jüngster Zeit nach Syrien oder Irak ausgereist. Rund 180 davon sind inzwischen zurückgekehrt. Wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft bei der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) hat ein Spezialeinsatzkommando der Polizei in Nordrhein-Westfalen am Samstag den 24-jährigen Nils D. festgenommen. Er soll im Oktober 2013 nach Syrien ausgereist sein und sich zumindest bis zu seiner Rückkehr im November 2014 als Mitglied an dieser terroristischen Vereinigung beteiligt haben. Ein Zusammenhang mit den terroristischen Anschlägen in Frankreich bestehe nicht, teilte die Generalbundesanwaltschaft mit.

Zu Beginn des Jahres war ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der “Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat” gegen den Beschuldigten eingeleitet worden. “Falls es in Deutschland zu einem Terroranschlag kommen sollte, könnte es also gut sein, dass wir den oder die Täter bereits als Gefährder auf der Liste hatten”, sagte ein einflussreicher Beamter. Durch die Ereignisse in Frankreich sei die Anschlagsgefahr insgesamt größer geworden, auch weil man Nachahmer fürchten müsse. Gleichwohl sei es unmöglich, alle gewaltbereiten Islamisten rund um die Uhr zu observieren.

Austausch von Fluggastdaten soll endlich kommen

Nachdem die französischen Einsatzkräfte den Terrorspuk beendet hatten, werden die Ereignisse der letzten Tage auf höchster politischer Ebene besprochen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) wird an diesem Sonntag von seinem französischen Amtskollegen Bernard Cazeneuve in Paris empfangen. Er will mit weiteren EU-Amtskollegen eine Erklärung abgeben. Die Runde plant zudem, über erste Konsequenzen zu beraten. Nach Informationen de “Welt” wollen die EU-Staaten das seit Längerem geplante Abkommen über den Austausch von Fluggastdaten (PNR) endlich auf den Weg bringen. Das Thema soll beim Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs am 12. Februar in Brüssel eine Rolle spielen.

Fluggesellschaften speichern sogenannte PNR-Daten (Passenger Name Record). Dazu gehören sämtliche Buchungs- und Flugdaten mit bis zu 60 Einzelangaben wie Anschriften, E-Mail-Adressen und Kreditkartennummern der Fluggäste. Hätten die europäischen Sicherheitsbehörden darauf Zugriff, könnten sie Profile über Reisen von Extremisten anlegen. Damit wäre es möglich, verdächtige Bewegungen von Kämpfern aus dem Irak und Syrien, die nach Europa zurückkehren wollen, frühzeitig auszumachen.

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Deutschen Separatisten auf der Spur

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Deutschen Separatisten auf der Spur

Deutsche Österreichische Kämpfer im Donbass FOTO[1]

Man spricht deutsch. Separatisten bedanken für Spenden – in ihren Reihen kämpfen auch etliche Bundesbürger

Es war der Anfang einer langwierigen Recherche: Ein Kollege hatte erfahren, dass sich ein Deutscher über Russland ins Kriegsgebiet aufgemacht hatte. Wir durchforsteten daraufhin russische und deutsche soziale Netzwerke und stießen auf immer mehr Bundesbürger, die für die von Russland unterstützten Separatisten kämpften. Wir holten Melderegister- und Bonitätsauskünfte ein, besorgten uns alte Zeitungsartikel über die Personen, versuchten mit ihren Bekannten und Verwandten in Kontakt zu kommen und mit ihnen zu sprechen.

Mehr als ein Dutzend deutscher Staatsangehöriger, die in der Ostukraine auf Seiten der Separatisten kämpfen, konnten wir identifizieren. Sie stammen aus Frankfurt am Main, aus Essen, dem Raum Aachen oder dem hessischen Wetzlar. Sie nehmen an einem Krieg teil, der bereits mehr als 6000 Tote, meist Zivilisten, gefordert hat. Ihnen auf die Spur zu kommen und ihre Biografie zu rekonstruieren, war ein langer Weg. Das Ergebnis unserer wochenlangen Recherche haben wir trimedial aufbereitet und auf allen Kanälen der WELT-N24 Gruppe präsentiert: Ein großer Bericht in der “Welt am Sonntag”, die Nachricht auf Welt Online, und ein Film über den ersten gefallenen Deutschen in der Ostukraine auf N24 und auf welt.de.

Besonders berührt hat uns der Fall des Mannes aus Schweinfurt, der durch einen Granatsplitter sein Leben verlor. Um seiner Geschichte nachzuspüren, machten wir uns auf an seinen Heimatort Schweinfurt – wo wir uns mit früheren Weggefährten und seinem ehemaligen Kampfsporttrainer trafen.

Traueranzeige für den gefallenen Vitalij Pastuchow: Er wurde in Moskau beerdigt; seine deutschen Freunde zahlten die Überführung des Leichnams dorthin

Traueranzeige für den gefallenen Vitalij Pastuchow: Er wurde in Moskau beerdigt. Seine deutschen Freunde zahlten die Überführung des Leichnams dorthin

Aber auch der Fall eines erst 21 Jahre jungen Mannes aus Essen, der sich den Kampfnamen „Stierlitz“ gegeben hat und auf Facebook als „Nikolaj Blagin“ auftritt und von seinen „Heldentaten“ im Kriegsgebiet berichtet, hat uns bewegt. Seinen bürgerlichen Namen Blagaderov verschweigt er üblicherweise, an seiner ehemaligen Schule konnten sich aber noch viele gut an ihn erinnern. Blagaderovs Mutter zeigt sich uns gegenüber verschlossen – verständlich, wenn  das eigene Kind sein Leben leichtfertig aufs Spiel setzt. Nikolaj Blagaderov ist dagegen völlig unbeschwert. Noch vor einigen Wochen tauchte er im RheinRuhr Berufskolleg in Essen auf, wo er vor zwei Jahren seinen Hauptschulabschluss abgelegt hatte. Blagaderov war auf Fronturlaub. „Er kam in Uniform und war unheimlich stolz auf seinen Kampfeinsatz“, sagte uns eine Lehrerin.

Von unseren Recherchen zeigten sich sowohl das Bundesjustizministerium als auch das Auswärtige Amt überrascht. Angeblich haben sie überhaupt keine „belastbaren Erkenntnisse“ darüber, dass Bundesbürger 2500 Kilometer von ihrer Heimat entfernt für selbsternannte Volksrepubliken ihr Leben riskieren. Das ist wenig glaubwürdig: In Gesprächen mit Vertretern deutscher Sicherheitsbehörden wurde uns dann aber bestätigt, was wir zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon vermuteten: Mehr als 100 deutsche Kämpfer gibt es offenbar in der Ostukraine. Der vermutlich erste und bislang einzige von ihnen, der für die Mission der Rebellen sein Leben ließ, ist der 33-jährige Vitalij Pastuchow – die Hauptfigur in unserer Geschichte.

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Warum Deutsche für Putin in der Ukraine sterben

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Warum Deutsche für Putin in der Ukraine sterben

Rund 100 Bundesbürger kämpfen für die Rebellen in der Ostukraine. Viele Russischstämmige sind darunter, ehemalige Soldaten, auch eine Frau – und die Politik schaut tatenlos zu.

Von Dirk Banse , Michael Ginsburg, Uwe Müller, André Eichhofer, Julia Smirnova

Am 12. Februar um 15.34 Uhr wird sein Tod bekannt. Über VK, das russische Pendant zu Facebook, kommt die Nachricht. Dort verkündet eine Gruppe von Rebellen in der Ostukraine den Tod eines Kameraden. Gefallen sei Vitalij Pastuchow, steht dort in kyrillischen Buchstaben. “Kämpfer der ersten Izwarinsker Schützenkompanie. Geboren in Kasachstan.”

Was aus den wenigen Zeilen auch noch hervorgeht: Der Tote war ein Deutscher, 33 Jahre alt.

Sein halbes Leben hatte er nach Recherchen der “Welt am Sonntag” in Bayern verbracht, wo er in Würzburg, Bayreuth und zuletzt in Schweinfurt wohnte. Gestorben ist er im Krieg gegen Kiew, als Kämpfer für die von Russland unterstützten Separatisten. Just an dem Tag, an dem Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident François Hollande den verfeindeten Parteien nach einer durchverhandelten Nacht eine Waffenruhe  abrangen. Monatelang hatten Politiker und Diplomaten aus aller Welt versucht, eine Eskalation des Ukraine-Konflikts zu verhindern.

Während die Nachricht vom Waffenstillstandsabkommen an diesem Tag die Schlagzeilen dominierte, schaffte es der Name des gefallenen Deutschen an der ukrainischen Front nicht in die Nachrichten. Er wurde gar nicht wahrgenommen. Dabei wäre Aufmerksamkeit durchaus angebracht gewesen. Denn es gibt noch zahlreiche andere Deutsche, die in der Ostukraine im Dienst der Separatistenmilizen stehen.

Nach Schätzungen deutscher Sicherheitsbehörden sind es mindestens 100. Momentan ist es zwar vergleichsweise ruhig im Kampfgebiet. Doch die Lage bleibt angespannt. Vor allem rund um die strategisch wichtige Stadt Mariupol waren diese Woche wieder viele Schusswechsel zu hören.

Mehr als ein Dutzend dieser Kämpfer konnten nach ersten Recherchen dieser Zeitung identifiziert werden. Viele von ihnen brüsten sich im Internet mit vermeintlichen Heldentaten. Oft verstecken sie ihre wahre Identität hinter Kampfnamen. Bei der Rekonstruktion ihrer Biografien zeigt sich: Das Gros hat russische Wurzeln. Aber auch eine Frau ohne jeden Migrationshintergrund ist unter den Freiwilligen, von denen wiederum einige ehemalige Bundeswehrsoldaten sind.

Wie geht die Bundesrepublik mit dieser Tatsache um? Der Konflikt in der Ostukraine hat schon mehr als 6000 Menschen das Leben gekostet, darunter mindestens 4000 Zivilisten. Nach ukrainischem Recht machen sich diese Krieger mit deutschem Pass strafbar – aber werden sie auch von der deutschen Justiz verfolgt? Voraussetzung dafür wäre etwa, dass die Separatisten als terroristische Vereinigung im Ausland eingestuft werden. Das ist bislang aber nicht der Fall.

Die Bundesregierung tut sich schwer, Fragen dazu zu beantworten. Sowohl das Bundesjustizministerium als auch das Auswärtige Amt erklären, man habe “keine belastbaren Erkenntnisse” über Deutsche, die in der Ukraine kämpfen würden. Das Bundesinnenministerium dagegen gibt zu, Hinweise auf Einzelfälle zu haben. “Hinsichtlich deren politischer Motivation liegen bisher keine Erkenntnisse vor”, heißt es allerdings. Straftaten deutscher Staatsangehöriger im Ausland würden nicht toleriert. Nach Informationen dieser Zeitung wurde bislang jedoch noch nicht gegen deutsche Kämpfer in der Ostukraine ermittelt.

Dabei zeigt Berlin anderswo durchaus harte Kante. Wer etwa nach Syrien auswandert und sich dem Islamischen Staat (IS) anschließt, den trifft die volle Härte des Gesetzes. Und selbstverständlich werden junge Dschihadisten von den deutschen Geheimdiensten observiert. Erst vor wenigen Tagen warnte Christof Gramm, Präsident des Militärischen Abschirmdiensts (MAD), davor, dass “die Bundeswehr als Ausbildungscamp für gewaltbereite Islamisten missbraucht werden” könnte. Mit Blick auf die deutschen Kämpfer in der Ostukraine gibt es derartige Töne nicht. Da gibt es nicht einmal einen gesonderten Auftrag der Politik an den Verfassungsschutz, sich mit diesem Kriegstourismus zu befassen. Der überprüfe lediglich, ob extremistische Bestrebungen erkennbar seien, heißt es im zuständigen Innenministerium.

Dahinter könnte politisches Kalkül stecken. Die Bundesrepublik, allen voran die Kanzlerin, lässt nichts unversucht, in der Region Frieden zu stiften. Dazu braucht man nicht nur den Kreml, sondern auch die Separatisten. Würde man sie zu Terroristen erklären, könnte man sie kaum mehr an den Verhandlungen beteiligen, wie in Minsk geschehen.

Deutsche haben wichtige Posten in den Milizen

Zudem bekleiden die Freiwilligen mit deutschem Pass teilweise wichtige Posten in den prorussischen Milizen. Mehrere Hundert Separatisten hatte etwa Alexej Relke unter sich, als er als einer der ranghöchsten Kommandanten in der gefürchteten Milizenarmee namens Süd-Ost war. Die Ostukraine ist seine ursprüngliche Heimat, hier wurde er 1972 geboren. 1990 wanderte er dann mit der Mutter und zwei jüngeren Geschwistern aus. Der Vater, ein Russe, von Beruf Hochspannungselektriker, war zehn Jahre zuvor bei einem Arbeitsunfall gestorben. Die Familie fasste in Deutschland Fuß. Allein Sohn Alexej gelang der Neustart in der fremden Umgebung nicht recht. Seine erste Ehe ging schief, zwei Jahre konnte er keine Arbeit finden. “Alexej hat es am schwersten gehabt”, sagt seine Mutter.

Der bullige Mann mit dem leicht schwäbischen Akzent war an vorderster Front dabei, als sich im Frühling 2014 die Separatisten in Donezk und Lugansk formierten und Schritt für Schritt die Gebietsadministrationen, Polizei- und Geheimdienstgebäude sowie Radiostationen übernahmen. Laut dem ukrainischen Geheimdienst soll der “Deutsche”, so Relkes Spitzname, damals den Aufstand von Lugansk ausgelöst haben. Das Innenministerium in Kiew bezeichnete ihn vor rund einem Jahr noch als einen “der radikalsten Terroristen, die im Osten des Staates operieren”. Fragen will er nicht beantworten. Die Medien in Deutschland, sagt er am Telefon, würden nicht objektiv berichten. Die Abscheu gegen die sogenannte Mainstream-Presse im Westen – sie ist allgegenwärtig, wo immer sich die deutschen Kämpfer im Dienste der russischen Separatistenmiliz äußern.

Nikolaj Blagaderov erklärt sich immerhin zu einem Interview bereit. Vor zwei Jahren hatte er in Essen, wo seine Familie lebt, die Hauptschule abgeschlossen. Danach hätten ihm viele Türen offen gestanden, davon ist auch eine ehemalige Lehrerin überzeugt. Doch Blagaderov, der sich inzwischen “Stierlitz” oder “Blagin” nennt, wählte einen anderen Weg.

Noch in dieser Woche hielt sich der 21-Jährige in Debalzewe auf, jener Stadt, um die auch nach dem “Minsk II” genannten Friedensabkommen vom 12. Februar erbittert gekämpft wurde. Auf schriftliche Anfrage teilt er mit: “Ich werde mich bei Ihnen melden, wenn es möglich ist.” Allerdings würden die mobilen Datenleitungen nur schlecht funktionieren. So kommt es dann doch nicht zum Gespräch. Andere Bundesbürger, die so wie Blagaderov, Relke und Pastuchow am Krieg teilnehmen, stammen aus Frankfurt am Main, dem Raum Aachen, Wetzlar in Hessen oder dem badischen Emmendingen.

Was aber ist es genau, das sie antreibt, ihr vergleichsweise privilegiertes Leben im Westen aufzugeben und gegen den gefährlichen Kriegsalltag im Donbass einzutauschen? Wie kommt es, dass sie ihr Leben riskieren für eine Bewegung, die die Souveränität eines Staates untergräbt und dafür ungeheure Verwüstungen in Kauf nimmt?

Wer zu den deutschen Kämpfern in der Ostukraine recherchiert, der findet erneut Parallelen zu Islamisten, die in den Dschihad ziehen. Meist geht es um missglückte Integration. Der Verein zur Förderung der Integration von Russlanddeutschen hat oft betont, dass die in Deutschland lebenden Aussiedler sowohl die russische als auch die deutsche Kultur in sich tragen. Keine könnten sie wirklich ausleben. Der Krieg in der Ostukraine bietet da offenbar die Chance, eine gefühlte Leere zu überwinden und sich in den Dienst einer vermeintlich guten Sache zu stellen.

Spurensuche im Umfeld des jungen Mannes, der in der Ostukraine sein Leben ließ. Die Geschichte, die ein enger Freund des getöteten Pastuchow erzählt, handelt von Verlierergefühlen, fehlender Anerkennung und Ausgrenzung. Es sind Erfahrungen, die die Biografien vieler russischstämmiger Bundesbürger prägen. Wir treffen den Mann, der anonym bleiben will, in einem italienischen Restaurant am Markt von Schweinfurt. Es ist Mittag, etwas verloren sitzt der Mann an einem großen Holztisch.

Das Gespräch beginnt schleppend. Nervös lässt der drahtige 39-Jährige seinen Löffel in der Teetasse kreisen. Er hat sich zu dem Treffen überreden lassen. Erst als die Sprache auf seine Kindheit und die seines Freundes Pastuchow kommt, beginnt er zu erzählen. Wie Vitalij sei er in einem kleinen kasachischen Ort groß geworden. Beide seien sie voller Stolz gewesen, deutsche Vorfahren zu haben. Selbst als Dorfbewohner sie als Faschisten beschimpften, seien sie gelassen geblieben. “Wir fühlten uns als Deutsche.”

Russlanddeutsche erschlugen Familienvater in Würzburg

Als sie später in die Bundesrepublik ausreisten, hatten Pastuchow und sein Freund rasch das Gefühl, nicht erwünscht zu sein. “Für die Deutschen waren wir Russen. In der Heimat galten wir als die Deutschen”, sagt der Weggefährte des toten Kämpfers. “Diese Erfahrung zählt zu den bittersten meines Lebens.” Pastuchow erging es nicht anders. Kein Schulabschluss, spärliche Deutschkenntnisse, all das erschwerte den Start in der neuen Heimat zusätzlich. Er lebte vom Sozialamt, hing herum, wurde kriminell.

Im Gefängnis lernten sich die beiden Männer 2004 kennen. Am 18. Februar 2003 war Pastuchow von der Großen Jugendkammer des Würzburger Landgerichts zu sieben Jahren Jugendstrafe verurteilt worden, er war damals gerade 19 Jahre alt. Das Regionalblatt “Mainpost” wertete seine Tat als eines “der brutalsten Verbrechen, das in den letzten Jahren in Würzburg geschah”. Der Russlanddeutsche hatte mit einem Landsmann einen 42-jährigen Familienvater im Vollrausch erschlagen. Man hatte sich um eine Flasche Wodka gestritten.

Nach der Entlassung aus der Haft wollte Pastuchow von Alkohol nichts mehr wissen. Er flüchtete sich in den Kampfsport: Sambo, eine russische Variante von Judo. Bis er im Herbst 2014 auf einmal beschloss, sein Leben zu ändern und in den Krieg zu ziehen. “Das ist mein Weg”, sagte Pastuchow zu seinen Bekannten.

Es ist der 14. September. Pastuchow schließt ein letztes Mal die Tür seiner Wohnung in Schweinfurt hinter sich zu und zieht los gen Osten. Seine Reise endet mitten im Kessel von Debalzewe. Dort dient der introvertierte Mann als Wachposten der Schützenkompanie an vorderster Front. Bis sich an einem eisigen Tag im Februar der Splitter einer Mörsergranate in den Schädel des 33-Jährigen bohrt. “Wir hatten davon geträumt, uns ein Haus im Ural zu kaufen und neu anzufangen”, erzählt sein Freund und beginnt zu weinen. “Vitalij hat einen anderen Weg gewählt”, sagt er und fügt leise hinzu: “Jetzt ist er tot.”

Wenn man das Leben Pastuchows Revue passieren lässt, scheint der Weg in den Krieg weniger politisch motiviert; es geht vielmehr um die Suche nach einer neuen Heimat. Es ist die bewusste Abkehr von einer Gesellschaft, die einen nie angenommen hat und die man zutiefst verachtet. “Die westliche Welt hat sich von ihren christlichen Wurzeln abgekehrt und begibt sich hin zu einem wahren Satanismus”, sagt Margarita Seidler, eine der bekanntesten deutschen Propagandistinnen für die russischen Separatisten im Kampfgebiet. “Deshalb wollte und konnte ich dort nicht bleiben.”

Auch Seidler ist in den Krieg gezogen, als eine der ersten Deutschen. Die 43 Jahre alte Frau, die im ostdeutschen Wittenberg geboren wurde, gehört zu den wenigen Freiwilligen im Donbass, die keine Wurzeln haben in der Region. Auch ihre Vita erzählt von einer langen Suche. Als die Mauer fiel, wurde Seidler Krankenschwester und suchte ihr Glück in Bayern. Doch ihr erster Job in einer Klinik in Garmisch-Partenkirchen füllte sie nicht aus. Ihre Freunde – Georgier, Weißrussen und Ukrainer – führten sie ein in die russisch-orthodoxe Christi-Auferstehungs-Gemeinde in München. Seidler wurde gläubig.

Erzpriester Nikolai Zabelitch erinnert sich noch gut an die Frau, die sich 1999 von ihm taufen ließ. Seidler habe an Pilgerreisen nach Griechenland und Italien teilgenommen und schließlich den Entschluss gefasst, in der Ukraine in einem Kloster zu leben. Eine prägende Erfahrung, wie Seidler später selbst bekannte: “Dort findet man alles, was man zur Rettung der Seele braucht.”

Je tiefer sie eintauchte in die Spiritualität, desto mehr entfernte sie sich von der westlichen Gesellschaft. Und je mehr sie sich vom Westen abkehrte, desto mehr sympathisierte sie mit der Idee vom großrussischen Reich. Da war die Besetzung der Gebietsadministrationen von Donezk und Lugansk im Frühjahr 2014 eine Initialzündung. Kurz darauf stieß Seidler zu den Separatisten. Es gibt zahlreiche Aufnahmen, die Seidler in Uniform und in Kampfpose mit Maschinengewehr (Link: http://www.welt.de/138401011) zeigen. Doch sie ist vor allem eines: Propagandistin, die von russischen TV-Sendern als geschätzte Interviewpartnerin gefeiert wird.

“Ich sehe mich schon lange als Russin und habe die russische Seele”, sagte sie Ende Januar dem Moskauer Sender NTW. Wobei Russland für sie keineswegs die Föderation in ihren heutigen Grenzen ist, sondern ein besonderes Gebilde mit tiefen historischen Wurzeln: “Ob Ukraine, Weißrussland oder Russland – für mich ist das alles Großrussland, alles die heilige Rus.” Seit zwölf Jahren ist die Frau nicht mehr in Deutschland gewesen.

Hass auf Deutschland geringer als bei IS-Kämpfern

Eben darin besteht der große Unterschied zwischen den Kämpfern in der Ostukraine und den Dschihadisten, die in den Heiligen Krieg nach Syrien oder in den Irak ziehen: Anders als bei den IS-Sympathisanten scheint bei den prorussischen Aktivisten zumindest bislang das Risiko gering, dass sie zurückkehren – mit dem Ziel, ihren Kampf gegen westliche Werte in Deutschland weiterzuführen. Vielleicht ist auch das der Grund, warum die Bundesregierung dem Phänomen wenig Beachtung schenkt.

Darf Deutschland tatenlos zusehen, wenn Bundesbürger an militärischen Aktionen beteiligt sind, die Menschenleben kosten? “Wir sehen diese Deutschen als Söldner im weitesten Sinne an”, sagt Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Berlin. Nachdem er von den Recherchen dieser Zeitung erfahren hatte, ist er beim Auswärtigen Amt und beim Innenministerium vorstellig geworden. Die Bundesregierung müsse dafür sorgen, dass Deutsche nicht weiterhin “in Richtung Osten ziehen und am Morden und Töten teilnehmen”.

In Berlin stößt er damit bislang allerdings auf wenig Gehör. Dabei gibt es andere Staaten in der EU, die entschiedener gegen den Kriegstourismus vorgehen. Lettland zum Beispiel: Nach einem neuem Gesetz muss ein Lette, der für die prorussischen Separatisten in der Ostukraine oder für die Terrormiliz IS kämpft, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren rechnen.

Ob strengere Gesetze Pastuchow von der Ausreise abgehalten hätten, ist fraglich. Er war offenbar fest entschlossen und weihte nur wenige Freunde ein. So reagiert sein ehemaliger Kampfsporttrainer Albert Köpplin schockiert, als er vom Tod seines früheren Schülers erfährt. “Dafür, dass er in den Krieg in die Ostukraine gezogen war, habe ich keine Erklärung.” Der Sambo-Bundestrainer betreut viele junge Leute, die auf die schiefe Bahn geraten sind. Er sei sicher, sagt er, dass der Sport “Vitalij geholfen hat, mit seinem Leben klarzukommen”.

Zumindest ein Wunsch ist für den gefallenen Separatisten in Erfüllung gegangen. Seinem Freund hatte er einmal gesagt, er wolle nicht in Deutschland sterben. Am 25. Februar wurde Vitalij Pastuchow in Moskau beigesetzt. Die Rebellen, für die er sein Leben ließ, zahlten nicht für seine Beerdigung. Es waren seine Freunde in Deutschland, die Spenden sammelten, damit sein Leichnam aus dem Kriegsgebiet heraus nach Russland gebracht werden konnte.

Der Artikel auf welt.de

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Chefsache Andreas L.

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Chefsache Andreas L.

Der Germanwings-Absturz wirft ein schlechtes Licht auf die medizinische Überwachung von Piloten. Die Schwächen lassen sich ausgerechnet an einem der bekanntesten Ärzte der Szene aufzeigen.

Von Dirk Banse, Jörg Eigendorf, F. Flade, M. Ginsburg, Martin Lutz , A. Maisch, A. Naumann, Tim Röhn

Es gibt Zufälle, die sind so unglaublich, dass der Zufall fast ausgeschlossen scheint. So war es auch am 24. März um kurz nach 10.40 Uhr, als der Germanwings-Airbus an einem Berg auf dem Gebiet der Gemeinde Prads-Haute-Bléone zerschellte. Da tagten gerade mal 40 Kilometer Luftlinie talwärts zwei Mediziner, die 2009 eine wichtige Rolle dabei gespielt haben sollen, dass der Copilot Andreas L. überhaupt noch fliegen durfte. Zumindest einer der beiden Ärzte stand am Ende der Verantwortungskette, als Andreas L. in den Folgejahren weiter tauglich geschrieben wurde. Dieser Mann hielt der Tagesordnung der Fliegerärzteschulung zufolge auf dem kleinen Segelflugplatz in Château-Arnoux-Saint-Auban in Südfrankreich gerade einen Vortrag, in dem es um das Thema Stress ging. Da geschah die Katastrophe.

Fakt ist: Es gibt kein Indiz dafür, dass Zeit und Ort des Unglücks und die Tagung in irgendeinem Zusammenhang stehen. So sieht es auch die Staatsanwaltschaft. Andreas L. habe keine Herrschaft über den Zeitpunkt der Tat gehabt, heißt es in Ermittlerkreisen. Gerüchte, der Copilot habe den Flugkapitän Patrick S. zum Gang auf die Toilette gedrängt, seien falsch. Die Ermittler haben auf dem iPad des 27-jährigen Mannes auch keine Hinweise darauf gefunden, dass er diesen Ort und den Tagungsplan gesucht hatte. Das gilt zumindest für den Zeitraum vom 16. bis 23. März. Auch für eine persönlichere Beziehung zwischen dem Copiloten und den Medizinern gibt es keinen Hinweis.

Doch auch wenn es Zufall war, so lassen sich doch an einem der beiden Professoren wie an wohl keiner anderen Person die vielen Verbindungen und auch Missstände im System erklären, die der Fall Andreas L. nun ans Tageslicht bringt. Es geht um ein System, das ungeeignet ist, Querschläger wie Andreas L. zu identifizieren – trotz scheinbar unendlich vieler Vorschriften und Regeln.

Der Mann, an dem sich das exemplarisch erzählen lässt, heißt Uwe Stüben. Er ist einer der anerkanntesten Flugmediziner in Deutschland. Bis Ende März 2014 war der hochgewachsene Mann mit dem weißen Schnäuzer Leiter des medizinischen Dienstes der Lufthansa. Dann war Schluss, aber in Rente ging er nicht wirklich. Er leitet weiter ehrenamtlich die Deutsche Akademie für Flug- und Reisemedizin. Die gehört zu 90 Prozent der Lufthansa und operiert auch von deren Basis in Frankfurt am Main aus.

Damit hat der Mediziner weiterhin großen Einfluss auf die kleine Gemeinschaft der Flugmediziner in Deutschland. Ganze zwei Orte gibt es in der Bundesrepublik, an denen die Grundlehrgänge der Ausbildung für Fliegerärzte stattfinden – das Flugmedizinische Institut der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck und eben Stübens Akademie.

Nun droht sein Ruf schweren Schaden zu nehmen – so wie das Ansehen der Lufthansa und der flugmedizinischen Aufsicht in Deutschland insgesamt.

Das hat direkt und indirekt mit dem Fall Andreas L. zu tun. Es gibt viele Fragen, die wohl niemand so gut wie Stüben beantworten könnte: Was passierte im Spätsommer 2009, nachdem Andreas L. während seiner Ausbildung in der Verkehrsfliegerschule der Lufthansa mehrere Monate pausiert hatte? Der angehende Pilot meldete sich zurück und verwies darauf, eine “schwere depressive Episode” hinter sich zu haben. Damals wurde im Rahmen der ersten Tauglichkeitsprüfung im Aeromedical Center der Lufthansa in Frankfurt auch ein psychiatrisches Gutachten eingeholt. Das machte bei der Lufthansa zu dieser Zeit im Regelfall der zweite Professor auf der Fliegerarztfortbildung in Château-Arnoux-Saint-Auban: der Ulmer Psychiater Jürgen Kriebel.

Weder die Lufthansa noch die beiden Mediziner wollen bestätigen, dass sie eine entscheidende Rolle bei diesen medizinischen Untersuchungen gespielt haben. Man beruft sich auf die ärztliche Schweigepflicht und die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Ein ausführlicher Fragenkatalog blieb weitgehend unbeantwortet: “Bitte haben Sie dafür Verständnis, dass wir uns zu Ihren Fragen bezüglich des medizinischen Dienstes der Lufthansa im Zusammenhang mit Tauglichkeitsprüfungen von Andreas L. derzeit nicht äußern”, hieß es.

Im Umfeld des Medical Centers ist aber zumindest die Verantwortung Stübens ausgemachte Sache: “Ein solcher Fall war immer Chefsache”, sagt einer, der den Bereich von innen kennt. Schließlich habe es im sogenannten Medical den Vermerk “REV” und somit eine Sondergenehmigung samt einem Beiblatt gegeben, das auf die Vorerkrankung von Andreas L. hinwies. Das musste er bei jeder Tauglichkeitsprüfung vorlegen; bei einem Rückfall hätte ihm sofort die Lizenz entzogen werden müssen.

Was eine noch drängendere Frage aufwirft: Warum haben die Mediziner der Lufthansa, allen voran der Leiter des medizinischen Dienstes, in den Folgejahren ab 2010 nicht ein weiteres psychiatrisches Gutachten auf den Weg gebracht? Mindestens fünfmal wurde Andreas L. im Aeromedical Center in Frankfurt vorstellig, und einmal 2014 in München. Stüben war für die Problematik psychischer Erkrankungen sensibilisiert. In einem gemeinsamen Aufsatz mit Psychiater Kriebel schrieb er 2011: “Es bleibt erstaunlich, wie viele Piloten mit milderen oder ausklingenden depressiven Störungen unter Antidepressiva ohne Kenntnis der Fliegerärzte flogen – und bei uns wohl noch fliegen!”

Respektloser und selbstgerechter Stil

Zudem ist kaum vorstellbar, dass ein Fall wie Andreas L. mit einem schwerwiegenden Vermerk und einer Sondererlaubnis am Chef vorbei entschieden wurde. Aus mehreren Quellen sind unabhängig voneinander ähnliche Schilderungen zu hören. “Er war der Alleinherrscher in seinem eigenen Königreich”, sagt ein Mediziner, der lange für ihn gearbeitet hat. Andere beschreiben ihn als “selbstherrlich”, “selbstverliebt”, “autokratisch”. Dabei habe er immer betont, dass der medizinische Dienst einer der wenigen Bereiche sei, die “bei der Lufthansa schwarze Zahlen schreiben”. Entsprechend hoch sei die Belastung der Mediziner gewesen.

Einer der Ärzte gibt sogar eine Erklärung an Eides statt ab. “Herr Stübens Führungsstil war mir und anderen Mitarbeitern gegenüber … sehr respektlos, selbstgerecht und die Aussagen in der Wortwahl immer militärisch markig.” Er habe “ganze Projektabläufe von Arbeitsgruppen” blockiert. Und: “Er konnte sich extrem viel erlauben, ohne nach außen sichtbar von seinen Vorgesetzten gerügt oder gemaßregelt zu werden. Wortkarg antwortet der Konzern auf den ausführlichen Fragenkatalog: “Zu anonymen Äußerungen geben wir generell keine Stellungnahme ab.”

Dass ausgerechnet im medizinischen Dienst, in dem Andreas L. Jahr für Jahr tauglich geschrieben wurde, derartige Verhältnisse herrschten, ist für die Lufthansa und ihre Glaubwürdigkeit in dieser Krise ein ernsthaftes Problem. Zumal dieser Bereich seit dem Absturz die Konzernleitung offenbar mehrfach falsch informiert hatte, sodass sogar Vorstandschef Carsten Spohr auf dem falschen Bein erwischt wurde.

Dabei droht noch weiteres Ungemach – und zwar bei der Deutschen Akademie für Flug- und Reisemedizin. Diese Tochter der Lufthansa kaufte 2013 einen Segelflieger – einen Schleicher ASH 30 mit der Kennung D-KAME. Der Doppelsitzer ist besonders attraktiv bei Wettbewerbsfliegern der sogenannten Offenen Klasse, der Königsdisziplin für Segelflieger. Der Listenpreis beträgt samt Anhänger und Technik rund 350.000 Euro. Laut Jahresabschluss wurde der Flieger für den Schulungsbetrieb angeschafft. Auf Anfrage stellte die Lufthansa nun fest, dass dieser Segelflieger “insbesondere zu Forschungszwecken und medizinischen Messungen benutzt” wird.

Allerdings drängt sich der Eindruck auf, dass es noch andere Motive für den Kauf gab. Denn nach Recherchen der “Welt am Sonntag” nutzt Stüben diesen Flieger auch privat. Hinweise darauf lassen sich mit einer einfachen Internetsuche finden. Unter der Überschrift “Neue Superorchidee am Flugplatz” heißt es am 2. Februar 2014 auf der Homepage von Stübens Heimatverein, dem LSC Bad Homburg: “Erster Segelflugstart der Saison 2014. Am vorletzten Sonntag hat Uwe Stüben den Erstflug mit seiner neuen ASH 30 gemacht.” Rund fünf Monate später erflog Stüben dann “mit seiner neuen ASH 30 knapp 600 km. Insgesamt ein Wahnsinnstag”. Vereinsmitglieder beschreiben den “Uwe” denn auch als großzügigen Kameraden, der das Flugzeug an die Vereinsmitglieder verleihe. Das ist generös. Nur wie hat Stüben diese privaten Flüge abgerechnet? Schließlich ist die Akademie, der dieser Flieger gehört, eine gemeinnützige GmbH.

Geschäftsführer Stüben wollte sich auch dazu nicht äußern. “Er selbst möchte von einer Stellungnahme absehen”, antwortete die Lufthansa: Aber “ganz generell” könne man mitteilen: Das Flugzeug sei zur “Förderung von Wissenschaft und Forschung, der Aus- und Weiterbildung auf dem Gebiet der Flug- und Raumfahrtmedizin sowie der Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens” angeschafft worden. “Selbstverständlich wird die jeweilige Nutzung des Segelflugzeugs dokumentiert.”

Die Lufthansa muss sich nun fragen lassen, wie eine Führungskraft über viele Jahre so schalten und walten konnte. Und nicht nur sie hat im Bereich ihrer Flugmedizin ein Biotop entstehen lassen, in dem es mittlerweile ziemlich wuchert. Bei der Aufsicht über die gesamte deutsche Flugmedizin sieht es alles andere als gut aus. Der Weckruf kommt aus Brüssel. Die Vorwürfe haben es in sich, wie das ARD-Magazin “Report Mainz” aus einem internen Report der Europäischen Agentur für Flugsicherheit EASA zitiert: Das Luftfahrtbundesamt (LBA) habe “nicht die Kompetenz, um seine Verantwortlichkeit als Überwachungsbehörde im medizinischen Bereich zu erfüllen”. Die Arbeit des medizinischen Personals im Luftfahrtbundesamt werde quasi behördenintern ausgebremst. Auch herrsche in dem Amt “chronischer Personalmangel”.

Wenn es so um die Aufsicht über die Fliegerärzte sowohl bei der Lufthansa als auch vonseiten des Luftfahrtbundesamts bestellt ist, dann darf man sich nicht wundern, dass es sich die Zunft gemütlich macht – zumal es eine überschaubare und elitäre Gesellschaft ist. 487 Fliegerärzte gibt es in Deutschland. Rund 20 davon treffen sich jedes Jahr im März – und zwar in jenem südfranzösischen Ort Château-Arnoux-Saint-Auban. Da geht es sehr freundschaftlich zu.

Strafrechtlich gibt es keine Konsequenzen

Unter “Stage Kriebel” wird das Seminar im Netz angeboten, weil “der ehemalige Kursleiter, Prof. Dr. med. Jürgen Kriebel und seine allerliebste Ulla den Kurs jahrelang perfekt organisiert und durchgeführt haben”. Für die zehntägige Tagung wird auch der Schleicher ASH 30 im Anhänger von Bad Homburg nach Südfrankreich gefahren. Auf Kosten der Akademie “selbstverständlich”, wie Lufthansa schreibt. “Es ist mitunter durchaus von Interesse, verschiedene Probanden für die Messungen zu gewinnen.”

Das alles wird die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf weniger interessieren. Sie will vielmehr genauer wissen, was 2009 und in den Folgejahren im medizinischen Dienst der Lufthansa vor sich ging, als Andreas L. immer wieder tauglich geschrieben wurde. Strafrechtliche Konsequenzen wird das voraussichtlich aber in Deutschland nicht haben. Denn für den Tatbestand der Fahrlässigkeit hätte eine einzelne Person absehen müssen, welche Folgen ihr Handeln konkret hätte haben können. So einzigartig wie diese Katastrophe in Europa bislang ist, war das völlig abwegig.

Welche zivilrechtlichen Konsequenzen hingegen die möglichen Versäumnisse haben werden, ist ungewiss. Sicher scheint nur eins: Die medizinische Kontrolle von Piloten und die Überwachung der Fliegerärzte wird grundlegend reformiert werden – sowohl bei der Lufthansa als auch in Deutschland insgesamt.

Eine Passage, in der es hieß, dass Uwe Stüben direkt an den Vorstand berichtete, wurde in diesem Beitrag gestrichen. Es gab noch eine Führungskraft dazwischen.

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Spionageabwehr schaltet sich in BND-Affäre ein

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Spionageabwehr schaltet sich in BND-Affäre ein

Nun interessiert sich auch der Verfassungsschutz für die Suchmerkmale der NSA, die vom BND aussortiert wurden. Spähte der US-Geheimdienst deutsche Bürger, Institutionen oder Firmen aus?

Von Uwe Müller, Florian Flade, Dirk Banse

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) wird wegen der aktuellen Affäre beim Bundesnachrichtendienst (BND) aktiv. Die für Spionageabwehr zuständige Abteilung 4 der Kölner Behörde hat vom BND die Liste der vom US-Geheimdienst NSA beim BND eingeschleusten Suchbegriffe angefordert, wie die “Welt” aus Sicherheitskreisen erfuhr.

Geprüft werden soll, ob deutsche Bürger, Institutionen und Konzerne im Visier der NSA standen. Bislang hat der BND die Liste mit den sogenannten Selektoren nicht dem Verfassungsschutz zur Verfügung gestellt. Dabei handelt es sich etwa um IP- oder Mail-Adressen, die die NSA dem BND zur Datenabschöpfung übermittelte. Eigentlich soll dies dem Anti-Terror-Kampf dienen. Seit 2008 soll der BND rund 40.000 NSA-Suchmerkmale aussortiert und in der Liste gespeichert haben.

Die Abteilung 4 des Verfassungsschutzes, der dem Bundesinnenministerium von Thomas de Maizière  (CDU) untersteht, ist im Inland für Spionageabwehr, Geheim-, Sabotage- und Wirtschaftsschutz zuständig. Der BND benötigt für die Weitergabe der Liste das Einverständnis des Kanzleramtes. Denn dieses hat die Dienst- und Fachaufsicht für den deutschen Auslandnachrichtendienst.

Ist eine Absprache mit den USA notwendig?

Im Streit um die Herausgabe lässt die Bundesregierung das Parlament unterdessen zappeln. Zunächst will die Regierung das Ende von Konsultationen mit den Amerikanern abwarten. Die SPD und die Opposition kritisierten es als unnötig, die USA vorher zu fragen.

Auch Generalbundesanwalt Harald Range will die Listen einsehen. Im Rechtsausschuss sagte Range nach Teilnehmerangaben, er habe dazu ein Erkenntnisersuchen ans Kanzleramt gestellt. Als möglicher Straftatbestand komme staatlich gelenkte Wirtschaftsspionage infrage.

Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, die notwendigen Entscheidungen würden nach Abschluss der Konsultationen mit den amerikanischen Partnern getroffen. “Ich kann Ihnen nicht sagen, ob das morgen ist, oder an einem anderen Tag.”

De Maizière fehlt noch “vollständiger Überblick”

Innenminister de Maizière (CDU) sagte kurz vor einem Auftritt im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr) des Bundestags, die Regierung “im Ganzen” werde über die Freigabe der Listen entscheiden. Während Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auf die Konsultationen mit den USA verwies, hatte Vize-Kanzler Sigmar Gabriel (SPD) gefordert, dass die Parlamentarier rasch Akteneinsicht nehmen können.

De Maizière war von 2005 bis 2009 Chef des Kanzleramts. Auf die Frage, ob er rückblickend etwas anders machen würde, sagte de Maizière, er habe die Unterlagen aus dieser Zeit noch nicht komplett gesichtet. Auch habe er keinen vollständigen Überblick über das, was im BND geschehen sei: “Ich kann die Frage zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beantworten.”

Die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Christine Lambrecht, wandte sich gegen ein Abwarten der Konsultation: “Es bedarf keines Okays der Amerikaner.” Der SPD-Obmann im NSA-Untersuchungsausschuss, Christian Flisek, forderte die Regierung auf, den USA deutlich zu machen, dass die Einsicht in die Akten nicht “bis zum Sankt-Nimmerleinstag” hinausgezögert werden dürfe. Zudem müsse der BND nun sämtliche Selektoren überprüfen. “Da muss man grundsätzlich und systematisch ran.”

Die Grünen pochen auf Einsicht in viel mehr Daten. Er beantrage, dass die Regierung sämtliche NSA-Suchkriterien zur Verfügung stellt, sagte der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele. Die Abgeordneten sollten die Möglichkeit haben, die vermutlich Millionen von Daten selbst digital zu durchforsten.
(mit dpa)

 Der Artikel auf welt.de

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Auf den Spuren der verlorenen Kinder

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Auf den Spuren der verlorenen Kinder

1996 schockierte Kinderschänder Dutroux die Welt. Er war vermutlich Teil eines Netzwerks mit Verbindungen in höchste Kreise. Viele die mit dem Fall zu tun hatten, starben unter mysteriösen Umständen.

Von Dirk Banse, Michael Behrendt

Wenn Jean Lambrecks über die Kindheit seiner Tochter spricht, verschwindet die Traurigkeit aus seinem Gesicht. Dann vergisst er für wenige Momente, was Belgiens bekanntester Verbrecher Marc Dutroux seiner Eefje angetan hat. Erinnert sich, wie liebevoll sie war, als Kind schon, wie spontan, interessiert. Vor allem an Technik und Musik. Ihre Noten waren gut, das Abitur hatte sie ja gerade erst erfolgreich bestanden. Journalistin wollte sie werden, sagt Jean Lambrecks, “sie wollte über andere Menschen berichten”.

Stattdessen wurde über sie berichtet, weltweit. Über das 19-jährige Mädchen, das vergewaltigt, gefesselt und betäubt worden war. Das in eine Plastikfolie eingewickelt und lebendig begraben wurde auf einem Grundstück nahe der trostlosen Stadt Charleroi in der Wallonie, Belgien. Wo man sie schließlich verscharrt unter einem Schuppen fand. Die Traurigkeit ist in das Gesicht des 67-Jährigen längst zurückgekehrt. Er erinnert sich noch genau.

Eefje hatte mit ihrer Freundin An Marchal Urlaub an der belgischen Küste in Westende gemacht. Von einem Ausflug kamen sie nicht zurück. Blieben verschwunden, trotz umfangreicher Suchaktionen. Monate, ein Jahr.

Gefoltert und vergewaltigt

376 Tage später, am 3. September 1996, wurden ihre Leichen ausgegraben. Drei Wochen, nachdem Marc Dutroux in Belgien verhaftet worden war, das Ausmaß seiner Verbrechen langsam offenbar wurde. Zwei weitere Mädchen hatte er vergraben, zwei konnte die Polizei aus einem geheimen Verlies im Keller seines Hauses befreien. Alle Mädchen waren gefoltert und vergewaltigt worden.

Der Skandal um Marc Dutroux erschütterte Belgien in den Neunzigerjahren nachhaltig und sorgte weltweit für Entsetzen. Wie konnte es sein, dass ein polizeibekannter Sexualstraftäter, der wegen Entführung und Missbrauch bereits mehrere Jahre in Haft gesessen hatte, nicht früher gefasst worden war? Wie war ein Mensch zu so grausamen Verbrechen an Kindern in der Lage?

2004 fand schließlich der Prozess statt, Marc Dutroux wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber Zweifel begleiteten den Fall weiter. Vor wenigen Wochen erst veröffentlichte die belgische Zeitschrift “Le Soir Magazine” eine Umfrage zum Fall Dutroux. Das Ergebnis: 80 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass die Wahrheit nicht bekannt sei – fast 20 Jahre nach der Verhaftung des Kindermörders. Wurde wirklich alles getan, um den Fall aufzuklären? Gibt es noch weitere Opfer? Und weitere Täter? Fragen, die lauter werden.

Hoffnung auf Aufklärung

Der Mann mit den blassblauen Augen nippt am Rotwein, während er am Kamin eines belgischen Landgasthofs in der Nähe von Hasselt von seiner langen Suche nach der Wahrheit erzählt. Das Essen rührt Jean Lambrecks kaum an. Es fällt ihm an diesem Mai-Abend sichtlich schwer, über all das zu reden. Seine Hand liegt auf der seiner neuen Lebensgefährtin Els Schreurs. Sie beschäftigt sich inzwischen fast genauso intensiv mit dem Fall wie Lambrecks. Als sie sich 2009 kennengelernt haben, war Els Schreurs sofort klar, wie viel Raum der Fall im Leben dieses Mannes einnahm, und vor allem die Hoffnung auf Aufklärung. Ihr ging es bald ähnlich.

Der Mörder von Eefje verbüßt eine lebenslange Haftstrafe im Gefängnis, aber Ruhe fanden sie nicht. “Man will uns und die Weltöffentlichkeit glauben lassen, dass Dutroux ein Einzeltäter war. Aber das stimmt nicht. Wir haben sehr viele Hinweise darauf, dass er Teil eines Netzwerkes war, das nicht nur in Belgien existierte.”

Jean Lambrecks und seine Lebensgefährtin tragen fast jeden Tag Informationen zu dem Dutroux-Komplex zusammen, wollen jetzt darüber sprechen. Es gebe zahlreiche Spuren, sagen sie, unter anderem nach Deutschland und in die Niederlande. “Sie werden bis heute von den Behörden vertuscht. Vermutlich deshalb, weil Geheimdienste eine Rolle spielen. Schließlich geht es um Erpressung von einflussreichen Persönlichkeiten mit Kindersex”, sagt Els Schreurs.

Dutroux hatte die Kontakte ins europäische Ausland

Tatsächlich spricht auch Marc Dutroux selbst von kriminellen Strukturen mit Kontakten in hohe Gesellschaftskreise. “Ja, es gibt ein Netzwerk, das sind Schwerverbrecher. Ich stand in Verbindung mit bestimmten Leuten aus dem Netzwerk”, sagte er schon beim Prozess im Jahr 2004. 2012 schrieb der Mörder einen handschriftlichen Brief an den Vater eines des anderen getöteten Mädchen, Julie Lejeune. Auch darin behauptet Dutroux, dass er “auf dem Altar der Interessen der kriminell Unantastbaren” geopfert werde, die tadellos organisiert seien und über Mittel verfügten, “die königlichen Institutionen” zu beeinflussen. Zum Fall Eefje schreibt Dutroux dort, dass vonseiten der Justiz alles unternommen worden sei, “damit die Wahrheit nur bei einem Einzeltäter gesucht wurde”.

Wer diese “kriminell Unantastbaren” waren, das sagt Dutroux bis heute nicht.

Jean Lambrecks und seine Lebensgefährtin glauben dem Mörder seiner Tochter in diesem einen Punkt. “Er war eine Art Händler”, sagt Els Schreurs. Dutroux habe Kontakte ins europäische Ausland. Er sei unter anderem mit einem Pädophilenring in den Niederlanden vernetzt gewesen, der für die Verschleppung von Jungen aus Polen und Deutschland in Kinderbordelle nach Rotterdam und Amsterdam verantwortlich war.

Manuel Schadwald ist einfach verschwunden

Tatsächlich war Marc Dutroux in den Niederlanden unterwegs, er ist dort mehrfach im Milieu gesehen worden, das bestätigen Augenzeugen. In Amsterdam stand er in Kontakt mit Menschen aus der Szene, verkehrte in den einschlägigen Lokalen. Und in Amsterdam verlieren sich in diesen Jahren auch die Spuren anderer Kinder. Etwa die des seit 1993 vermissten Berliners Manuel Schadwald, einer der bekanntesten Vermisstenfälle der Bundesrepublik.

Es gibt keine Leiche in diesem Fall, es gibt keinen Mörder. Der damals Zwölfjährige ist einfach verschwunden. Aber es häufen sich die Hinweise, dass es Zusammenhänge gibt zwischen dem Verschwinden Manuel Schadwalds und dem Tod des belgischen Mädchens Eefje Lambrecks.

“Es gibt Parallelen zwischen dem Tod meiner Tochter und dem Verschwinden des Berliner Jungen. In beiden Fällen ist die ganze Wahrheit bislang nicht bekannt. Irgendjemand hat ein großes Interesse daran, das Ausmaß der Verbrechen zu verschleiern”, sagt Jean Lambrecks in dem Landgasthof an diesem Tag. Immer wieder wird er still. Und schaut lange in das Feuer des Kamins. Er und seine Lebensgefährtin haben sich in den vergangenen Jahren auch intensiv mit dem Fall Schadwald beschäftigt. Zeitungsartikel studiert, Zeugen getroffen, Unterlagen ausgewertet. Jean Lambrecks sagt: “Es gibt mittlerweile genügend Hinweise darauf, dass der Junge in die niederländische Kinderprostitutions-Szene verschleppt wurde.”

Hinweise in Richtung Kinderprostitutions-Szene

Manuel Schadwald verschwand an einem Sonnabend, es war der 24. Juli 1993. Er wollte in ein Freizeitzentrum im Berliner Stadtteil Köpenick, sagte seine Mutter später. Doch dort kam er nie an. Manuel war ein hübscher Junge mit dunklen Haaren und zarten Gesichtszügen. Freunde beschrieben ihn als schüchtern, sensibel und introvertiert. Die Eltern hatten sich früh getrennt, Mitschüler sollen der Polizei später berichtet haben, dass sich die Mutter nicht ausreichend um ihren Sohn gekümmert und ihn manchmal über Nacht allein gelassen habe. Trotzdem war er ein guter Schüler. Er sollte nach der Grundschule auf das Gymnasium wechseln. Aber dann verschwand er.

Vier Jahre später, im November 1997, tauchte der Name des Berliner Jungen plötzlich wieder auf. Ein niederländischer Fernsehsender berichtete von dem Verdacht, dass Manuel Schadwald auf einem Kinderporno-Film zu sehen sei. Die deutschen Medien reagierten sofort, die Öffentlichkeit war schockiert.

Die Berliner Polizei dementierte schnell, dass der Junge auf dem Video Manuel Schadwald gewesen sei. Sie machte allerdings nicht öffentlich, dass es in den Jahren zuvor tatsächlich zahlreiche Hinweise an die Ermittler zu dem Verschwinden des Jungen gegeben hatte. Und dass diese Hinweise auch in die Richtung der Kinderprostitutions-Szene in den Niederlanden deuteten.

Ergebnislose Suche

So erhielt die Berliner Polizei bereits im Juni 1994 – also nicht einmal ein Jahr nach Manuel Schadwalds Verschwinden – eine wichtige Information. Damals hatte ein Mann bei der Beratungsstelle für schwule und bisexuelle Männer “Mann-O-Meter” im Berliner Stadtteil Schöneberg angerufen und folgende Nachricht hinterlassen: “Ja, ich möchte meinen Namen nicht nennen. Ich wollte nur sagen, ich hab Beweise, dass der kleine Manuel in Amsterdam, ja in Amsterdam, in Holland, dass der tot ist. Ich hab wirklich Beweise dafür.” Anschließend erfolgte die Beschreibung eines Mannes. “Wenn ihr ihn habt, habt ihr auch die Leiche von Manuel in Amsterdam.”

Das Originalband übergaben die Aktivisten am selben Tag der Vermisstenstelle des Landeskriminalamtes Berlin. Die Berliner Polizei reagierte auch prompt. Sie stellte ein Ermittlungsersuchen nach Amsterdam und fragte einen Tag später auch bei Interpol an – ergebnislos. Die Berliner Beamten begannen auch gemeinsam mit der Rotterdamer Polizei zu ermitteln.

Im Februar 1995 wurden diese Ermittlungen jedoch eingestellt. Im Abschlussvermerk der niederländischen Fahnder stand, dass sich Manuel nicht in Rotterdam aufhalte oder aufgehalten habe. Bei der Berliner Polizei klappte man zunächst die Akte mit den holländischen Verbindungen zu.

Ermittler durften sich nicht offiziell äußern

Nachdem nun im November 1997 die Hinweise zu Manuel Schadwalds Rolle in einem Kinderporno aufkamen, schien die Berliner Polizei sich tatsächlich besondere Mühe zu geben, ihre Erkenntnisse zu den Ermittlungen für sich zu behalten. Noch im Herbst 1998 erklärte sie, es gebe bis heute keinen konkreten Nachweis, ja nicht einmal den kleinsten Hinweis, dass Manuel Schadwald überhaupt dieser Szene angehört habe. Aber die Hinweise gab es schon längst. Und genau das konnten Journalisten der Polizei auch wenig später nachweisen.

Heute formuliert die Berliner Behörde ihre Erkenntnisse anders. So steht etwa auf ihrer Internetseite zu dem Fall Schadwald: “In den vergangenen Jahren gingen auch Hinweise ein, die auf Verbindungen zur Homosexuellen- bzw. zur Kinderporno-Szene in den Niederlanden bzw. Belgien schließen ließen. Diese Hinweise konnten jedoch nicht verifiziert werden.” Auf Nachfrage antwortete die Polizei in dieser Woche erneut, dass es keinerlei neue Erkenntnisse zu Manuel Schadwalds Verbleib gebe.

Recherchen des “Algemeen Dagblad” und der “Welt am Sonntag” in diesen Ländern kommen allerdings zu einem anderen Ergebnis. Mehrere hochrangige Polizisten, Mitglieder von Geheimdiensten und Leute aus der Kinderporno-Szene haben bestätigt, dass sich Manuel Schadwald in den Kinderbordellen in Rotterdam und Amsterdam habe prostituieren müssen.

Ermittler sagten, dass sie sich offiziell nicht äußern dürften und dazu sogar schriftlich verpflichtet worden seien. Einer der wichtigsten niederländischen Fahnder bringt es mit zwei Sätzen auf den Punkt: “Natürlich war der Junge hier. Aber die Sonne wird nicht auf diesen Fall scheinen.” Er rechnet nicht mit einer Aufklärung des Falles, solange einflussreiche Kräfte sie verhindern.

Zeugen aus der Kinderporno-Szene

Es gibt weitere Fälle vermisster und ermordeter Kinder, die bis heute unaufgeklärt sind. Und bei denen Spuren in die Kinderprostitutions-Szene führen. Warum führten die Ermittlungen kaum zu greifbaren Ergebnissen? Wer behindert die Aufklärung? Und warum? Sind Antworten auf diese Fragen in Belgien und vor allem den Niederlanden zu finden?

Ein Zeuge aus der Szene schrieb in einer eidesstattlichen Versicherung: “Ich weiß, dass Berliner Kinder Anfang der 90er-Jahre in Bordelle nach Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen verkauft wurden. Die Berliner Staatsanwaltschaft ist darüber seit 1993 informiert. (…) Mein Name und meine frühere Tätigkeit als Kinderhändler sind der Berliner Staatsanwaltschaft ebenso seit 1993 bekannt.” Dieser Mann lebte nach eigenen Angaben in einem Haus im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, in dem in den 90er-Jahren ein zehnjähriger Junge spurlos verschwand.

Hinweise auf Snuff-Movies

Ein anderer Zeuge, ein Engländer namens Edward, sagte bereits 1997 in der Fernseh-Dokumentation “The Boy business”, dass im Amsterdamer Milieu alles außer Kontrolle geraten sei. Er habe mit eigenen Augen fünf Videos gesehen, auf denen kleine Jungen bei Sexspielen gefoltert und umgebracht worden seien. Er könne verstehen, dass man so etwas nicht glauben wolle. Und dann beschrieb er eine Szene noch ganz genau. “Ein Mann vergeht sich auf einem Boot an einem Jungen. Das Kind erstickt dabei. An Bord bricht Panik aus. Die Kamera fällt um.”

Zwei Undercover-Polizisten sagten, so zitiert es die Fernseh-Dokumentation, dass der britische Kinderschänder Warwick S. ihnen gegenüber in den 90er-Jahren damit geprahlt hatte, Filme besorgen zu können – sogenannte Snuff-Movies – auf denen detailliert gezeigt wird, wie Kinder vor laufender Kamera gequält und umgebracht werden. Er, Warwick S., sprach auch von dem Tod eines Jungen in Amsterdam, der zu dem Zeitpunkt 13 bis 15 Jahre alt gewesen wäre. Warwick S. hatte laut eigenen Angaben enge Kontakte zur Berliner Kinderpornografie-Szene. Und er hatte Kontakt zu einem mutmaßlichen Drahtzieher dieser Szene, Ludwig A., der tatsächlich auch der Berliner Polizei bekannt war.

Eine Segelyacht für Päderasten

18 Jahre später, im Mai 2015, Spurensuche an der holländischen Nordsee-Küste, ein bekannter Badeort. In den Lounges am Strand werden fruchtige Cocktails gereicht, Köche grillen Lobster und frischen Seefisch. Aus den Lautsprechern schallt zart Chill-out-Musik. Die Menschen sind entspannt und genießen die ersten freien Tage am Meer. Was hier keiner ahnt, nur wenige Meilen entfernt zieht eine Segelyacht ihre Kreise in der Abendsonne, auf der einst Sexspiele für gutbetuchte Päderasten stattfanden. Heute kann man auf ihr Charterfahrten buchen. Früher, in den 90er-Jahren, trug dieser Zweimaster am Heck noch den Schriftzug “Apollo”. Inzwischen heißt die Yacht anders.

Wenn es stimmen sollte, was mehrere Informanten dem “Algemeen Dagblad” und der “Welt am Sonntag” beschreiben, dann geschah auf diesem Boot Schreckliches. Dann war es der Ort, an dem ein Junge, an dem Manuel Schadwald, sein Leben verlor. Dann hatten sich dort einige wenige reiche Kunden aus Politik und Gesellschaft eingefunden, um vor laufender Kamera eine Sexorgie mit mehreren Kindern zu veranstalten. Dann wurde das Schiff nach dem Verbrechen in einen Militärhafen der niederländischen Marine geschleppt und gesäubert. Was aus den Filmaufnahmen wurde, ist unklar.

Wichtige Leute waren beteiligt

Tatsächlich bestätigt den Verdacht auch ein niederländischer Geheimdienstmann, der erst vor wenigen Tagen dazu bereit war, über den Fall zu reden. “Manuel Schadwald ist auf diesem Boot bei Sexspielen ums Leben gekommen”, sagt er. Das sei auch in den Akten des niederländischen Geheimdienstes so dokumentiert. Anschließend sei die Leiche im Meer versenkt worden. Und er sagt auch, dass der Fall vertuscht wurde, weil ranghohe Leute daran beteiligt waren. Warum er sein Schweigen jetzt erst bricht, das sagt er nicht.

War es dieses Boot? Es gibt Papiere zu der Segelyacht. Daraus geht hervor, dass sie einem inzwischen verstorbenen erfolgreichen niederländischen Wirtschaftsprüfer gehörte, dessen Lebensgefährte, Gerrit Ulrich, Auslöser des größten Kinderporno-Skandals der 90er-Jahre war.

In der Wohnung von Ulrich im niederländischen Badeort Zandvoort waren im Sommer 1998 zigtausende Fotos und Videos mit missbrauchten und gefolterten Kindern gefunden worden. Sogar Babys waren darunter. Wenige Tage zuvor waren der 49-jährige Ulrich und sein Geschäftspartner und Liebhaber noch zu einem Treffen mit uns erschienen. Dieser, ein tief in die Kinderporno-Szene verstrickter Belgier, hatte angegeben, Manuel Schadwald von Berlin aus in die Niederlande gebracht zu haben. Das steht auch in einem Rechtshilfeersuchen von Belgien an Holland.

Kurz nach dem Gespräch erschoss der Belgier seinen Liebhaber Gerrit Ulrich. Er sollte angekündigt haben, die Szene verlassen zu wollen und auszupacken – komplett. Auch über Manuels Schicksal. Angeblich gab es in seiner Wohnung ein Versteck, in dem sich brisantes Material befand. Nach seiner Ermordung stürmte die Polizei seine Wohnung. Die Schwester von Ulrich berichtete später, dass bereits zuvor “dubiose Männer in der Wohnung waren und vor dem Eintreffen der Beamten in einem Auto davonrasten”. Sie sollen einen Film gesucht und gefunden haben, der in einem geheimen Fach gelegen habe. War es ein Video von der “Apollo”?

Ungebremst gegen einen Brückenpfeiler

Auch eine Sozialarbeiterin aus dem wallonischen Teil Belgiens könnte im Besitz einer Kopie dieses Videos gewesen sein. Gina Pardaens-Bernaer arbeitete in den 90er-Jahren intensiv an den Fällen Schadwald und Dutroux und wollte schon damals einen Zusammenhang zwischen den Morden beweisen. Sie suchte den Kontakt mit privaten Ermittlern und Journalisten.

Sprach auch uns gegenüber davon, das Video mit Manuel Schadwald zu haben. “Wisst ihr, die Sache wird immer gefährlicher. Ich bekomme Morddrohungen. Außerdem haben mich amerikanische Geheimdienstler angesprochen. Sie wollen den Film und mich dafür ins Zeugenschutzprogramm nehmen”, sagte Gina Pardaens-Bernaer in ihrem Haus in Herne im Oktober 1998.

Ihr Mann stand neben ihr und sagte besorgt: “Ich habe Angst um sie.” Wenige Wochen später fuhr die Frau mit ihrem Auto ungebremst gegen einen Brückenpfeiler. Einen Tag vor ihrem Tod, am 13. November 1998, war in ihr Haus eingebrochen worden. Ging es um den Film? Einen Tag nach ihrem Tod sollte sie zu einer Vernehmung bei der belgischen Polizei erscheinen.

Es gab eine Grube für die Leichen

Der verurteilte Kindermörder Marc Dutroux schreibt in seinem Brief an den Vater der getöteten Julie Lejeune auch von solchen Filmen. Julie und ihre Freundin Melissa seien von einer Bande entführt worden, die die Mädchen für eine Orgie und für diese sogenannten “Snuff-Aufnahmen” brauchten. Die Kinder seien von Dutroux festgehalten worden, bis alle “Gäste” sich auf einen Termin einigen konnten. Es habe bereits eine Grube für die Leichen der Kinder gegeben.

Auftraggeber sei ein Brüsseler Geschäftsmann gewesen, der laut Dutroux “einen Arm länger als die Donau hat”. Und schließlich schreibt Dutroux: “Man muss die Existenz dieser Art von Kriminalität innerhalb unserer Institutionen anerkennen, will man die Gründe begreifen für das wiederholte Scheitern der Ermittlungen. Und auch, wenn man begreifen will, was mit Julie und Melissa wirklich passiert ist.” An anderer Stelle heißt es: “Die Wahrheit verpflichtet mich, damit anzufangen, um zu beweisen, dass Julie und Melissa nicht von einem Einzeltäter entführt wurden, um seine eigenen Geschlechtstriebe zu lindern oder seine Familie zu vergrößern.” Auch im Fall von Eefje spricht er davon, dass nicht richtig ermittelt worden sei.

Unter mysteriösen Umständen gestorben

Die Sozialarbeiterin Gina Pardaens-Bernaer ist nur eine von zahlreichen Menschen, die unter mysteriösen Umständen starben – während sie mit dem Fall des Kindermörders zu tun hatten. Ein Staatsanwalt und ein Polizist nahmen sich das Leben, beide recherchierten engagiert an der Theorie des Pädophilen-Netzwerkes. Manche Beobachter des Falles Dutroux sprechen von inzwischen 27 Todesfällen.

Jean Lambrecks, der Vater der ermordeten Eefje, sagt, alle, die die Wahrheit in diesem Fall suchen würden, müssten um ihr Leben fürchten. Oder hätten es bereits verloren. Und er sagt: “Deutschland und Belgien müssen im Fall Dutroux enger zusammenarbeiten, um die ungeklärten Fragen zu beantworten.” Für ihn ist klar, dass Geheimdienste in dem ganzen Komplex eine Rolle spielen müssen. “Das wäre der Grund dafür, dass systematisch Ermittlungen behindert wurden. Es ist eben die Pflicht von Justiz, Polizei und Geheimdiensten, uns mitzuteilen, was wirklich mit unseren Kindern geschehen ist und wer dafür die Verantwortung trägt. Das gilt auch für den Fall Manuel Schadwald.”

Er empfindet heute nur Wut und Hass für Dutroux. Er sagt, er würde es niemals schaffen, dem Mörder seiner Tochter gegenüberzutreten. Dabei hätten Lambrecks und seine Lebensgefährtin Els Schreurs so viele Fragen an den Mann. Könnte Jean Lambrecks einer Amnestie zustimmen, wenn Dutroux alle Hintergründe des Netzwerkes offenlegen würde? Der Mann schaut bei dem Gespräch in dem belgischen Landgasthof wieder gedankenverloren ins Feuer: “Ich wäre bereit, es mir zu überlegen.”

Unsere Autoren Dirk Banse und Michael Behrendt verfolgen den Fall des vermissten Berliner Jungen Manuel Schadwald seit 18 Jahren. Bei der Recherche kooperierten sie mit der holländischen Zeitung “Algemeen Dagblad”.

Der Artikel auf welt.de

WELT Investigativ Blog

Landtag befasst sich mit umstrittener Software

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Landtag befasst sich mit umstrittener Software

Bildschirmfoto 2015-12-18 um 09.31.10

Die merkwürdige Vergabe der IT-Sicherheitssoftware “Egosecure” beschäftigt nun auch den Innenausschuss des Brandenburger Landtags (Foto: dpa).

Dass sich auf Polizeicomputern sensible Daten befinden und sie deshalb besonders vor dem Zugriff von außen geschützt werden müssen, dürfte jedem klar sein. Nachdem wir in der „Welt am Sonntag“ berichtet hatten, dass für Brandenburgs Polizei die Sicherheitssoftware der Firma EgoSecure beschafft wurde, die zu der in Moskau ansässigen Unternehmensgruppe Infowatch gehört, gibt es nun Streit zwischen den Innenpolitikern des Bundeslandes.

Björn Lakenmacher, innenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, kritisiert vor allem die Art und Weise der Vergabe: „Ich verstehe nicht, warum bei der Ausschreibung nur die Software der Firma EgoSecure zugelassen wurde, obwohl auch andere IT-Unternehmen behaupten, die Anforderungen erfüllen zu können. Das muss geklärt werden.“ Auch der Vergaberechtsexperte Wolfram Krohn hält das Ausschreibungsprozedere für fragwürdig. „Was die Polizei als Begründung für die Produktfestlegung angibt, scheint mir mehr als dürftig“, sagte er.

Dagegen erklärte Brandenburgs Innenstaatssekretär Matthias Kahl (SPD) im Innenausschuss des Landtages, dass nach bisherigen Erkenntnissen die Vergabe rechtmäßig erfolgt sei und die Software auch in Berlin und im Saarland eingesetzt werde. Der Fall werde aber weiter geprüft.

Die Innenexperten der Linkenfraktion äußerten sich im Ausschuss nicht, sie kommentierten den Tagesordnungspunkt mit Gelächter.

Inhaberin der Unternehmensgruppe „Infowatch“ ist Natalya Kaspersky deren Kontakte zum russischen Geheimdienst FSB bekannt sind. Zudem besitzt die Unternehmensgruppe eine Lizenz des FSB.

CDU-Politiker Björn Lakenmacher wunderte sich im Innenausschuss darüber, dass eine Software eingekauft worden sei, die keine Lizenz vom deutschen Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik besitzt. Er wolle nun die komplette Vergabeakte einsehen. „Ich möchte vor allem wissen, ob wirklich wie behauptet eine umfangreiche Markterkundung stattgefunden hat“, sagt Lakenmacher.

investigativ.de

Moskaus Angst vor ausländischen Geheimdiensten

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Moskaus Angst vor ausländischen Geheimdiensten

Es klingt ein wenig nach Satire, was das russische Außenministerium Anfang der Woche verkündete. Russische Beamte, insbesondere Angehörige der Streitkräfte und der Sicherheitsbehörden, dürfen zukünftig nicht mehr in bestimmte Länder reisen. Das Reiseverbot für die schätzungsweise 250.000 Russen umfasst mehr als 100 Länder, darunter die gesamte EU und der nordamerikanische Kontinent. 

Der Grund? Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise, wolle man die Risiken für russische Geheimnisträger minimieren.”Provokationen und Anwerbeversuche ausländischer Nachrichtendienste sollen verhindert werden”, berichtet die Moskauer Tageszeitung “Kommersant”. Nur unter “außergewöhnlichen Umständen und aus guten Gründen” würden Ausnahmen gemacht.

Moskau fürchtet Anwerbeversuche von ausländischen Geheimdiensten – das klingt verdächtig nach unserem Bericht in der vergangenen Ausgabe der “Welt am Sonntag” zu den Aktivitäten der russischen Spione in Berlin. Nur mit vertauschten Rollen.

In der “Welt am Sonntag” hatten wir berichtet, dass russische Agenten unter der Tarnung als Diplomaten tätig zu sein, Personal aus dem Umfeld des deutschen Bundestages anwerben. Im Fokus der Moskauer Spione stehen dabei Referenten von Bundestags-Abgeordneten sowie wissenschaftliche Mitarbeiter von Ministerien und Stiftungen. Das Ziel: sensible Informationen über die deutsche Wirtschafts-, Außen- und Verteidigungspolitik abzuschöpfen.

Der Artikel schlug hohe Wellen. Viele Kollegen – darunter Spiegel Online, Süddeutsche, Deutsche Welle, Stern und RTL –  griffen das Thema auf. 

Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele forderte gar eine Sondersitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums zum Thema Russen-Spionage.

investigativ.de

Vom Stasi-Lehrling zum Topmanager in Russland

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Vom Stasi-Lehrling zum Topmanager in Russland

Ein Sachse steigt in Moskau zum Vizeverlagschef auf. Jüngst löste er den Vertrag mit einem Redakteur auf: Ein Eklat, der durch die Stasi-Vergangenheit des Managers in neuem Licht erscheint.

Von Dirk Banse, Michael Ginsburg und Uwe Müller

Andreas Setzepfandt hat ein Herz für Russland. Der Leipziger lebt seit rund 15 Jahren in Moskau, wo er Vizegeneraldirektor und Personalchef von Burda Russland ist. Der Ableger des Münchner Verlags beschäftigt mehr als 400 Mitarbeiter, gibt Luxus-, Lifestyle- sowie Computer-Zeitschriften heraus. Setzepfandt engagiert sich zudem ehrenamtlich in der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer. Dort ist er stellvertretender Vorsitzender und leitet das Komitee für Personalfragen.

Der 44-Jährige lässt kaum eine Gelegenheit aus, um deutsche Arbeitgeber darauf hinzuweisen, dass sie ihre Angestellten in Russland pflegen sollten. Er empfiehlt, Betriebskindergärten zu gründen, eine Ausweitung der Telearbeit zu prüfen und an Klimaanlagen für die Mitarbeiter zu denken. Vor einem halben Jahr allerdings hat das Bild vom verständnisvollen Personaler einen hässlichen Kratzer erhalten.

Kritik an der Feindseligkeit auf Facebook

Es war im Februar 2014, als Setzepfandt in eine Affäre geriet und einen öffentlichen Proteststurm auslöste. Damals sagte der Moskauer Journalist Dmitri Schulgin, er habe aus politischen Gründen seinen Job bei Burdas Magazin “Computerbild Russia” verloren. Der Redakteur hatte auf seinem Facebook-Profil die Feindseligkeit gegenüber der Ukraine kritisiert: “Mein Land ist krank, wie die Deutschen in den 30er- bis 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts.” Solche Kommentare seien ihm zum Verhängnis geworden, behauptete Schulgin anschließend.

In Deutschland ergriff die “tageszeitung” sogleich Partei für den Kollegen. “Burdas freiwillige Unterwerfung” titelte das Blatt und unterstellte damit dem Verlagshaus Duckmäusertum gegenüber dem Kreml. Der Buchautor Jürgen Roth fragte: “Burda-Verlagshaus als Handlanger des KGB/FSB in Moskau?”

Dafür gibt es keinen Beleg. Die “Welt” ist jetzt allerdings auf einen anderen Geheimdienstbezug gestoßen: Burdas Moskauer Statthalter Setzepfandt war als junger Mann hauptamtlicher Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und wurde darin geschult, wie man politische Gegner effektiv bekämpft.

Keine Veranlassung, die Stasi-Tätigkeit zu melden

Über diesen Teil seiner Vergangenheit hat Setzepfandt bis zur Anfrage dieser Redaktion weder seinen Arbeitgeber Burda noch die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer informiert. “Weil ich keine Veranlassung sah, diese Tätigkeit aus sehr frühen Jahren anzugeben”, begründet er sein Schweigen. Das Thema sei für ihn mit dem Zusammenbruch der DDR abgeschlossen gewesen. Der Sachse will auch nie seine Akte über die Zeit als MfS-Angehöriger eingesehen haben.

Die Dokumente aus dem Stasi-Unterlagenarchiv, die der “Welt” vorliegen, führen direkt zurück zu den Anfängen der Friedlichen Revolution in Leipzig. Während dieser Freiheitsbewegung stand Setzepfandt auf der falschen Seite der Geschichte. In der MfS-Kreisdienststelle Leipzig-Stadt wurde er ab Herbst 1988 an “ausgewählte Probleme der Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion (PID)/politischen Untergrundtätigkeit (PUT)” herangeführt, wie in seinem “Einarbeitungsplan” vermerkt ist. So wurde der Stasi-Lehrling darin geschult, “operative Ermittlungen und Beobachtungen” durchzuführen.

Exzellente Arbeit bei Ermittlungsberichten

Sein Vorgesetzter lobte in bürokratischem Deutsch, der neue Mitarbeiter habe beim “Anfertigen von Ermittlungsberichten, zusammengefassten Auskunftsberichten oder einer aus der Analyse gefertigten zusammengefassten Information” exzellente Arbeit geleistet. Setzepfandt lauschte auch Vorträgen von erfahrenen Kollegen zu Themen wie “Hauptaufgaben und Grundprinzipien der Arbeit des MfS”, “Erkennen von Anzeichen feindlicher Tätigkeit” und “Wachsamkeit, Geheimhaltung und Konspiration”.

Obwohl Stasi-Chef Erich Mielke seinerzeit in Leipzig “Provokateure, Randalierer, Rowdys und andere Kriminelle” wegen “Zusammenrottung” niederprügeln und ins Gefängnis stecken ließ, strebte Setzepfandt genau in dieser Phase eine Offizierskarriere in der Geheimpolizei an. Deshalb nahm er noch am 4. September 1989, als in seiner Heimatstadt immer mehr Bürger gegen das SED-Regime aufbegehrten, ein Studium an der MfS-eigenen Juristischen Hochschule auf. Doch schon im Januar 1990 wurde die Potsdamer Stasi-Universität abgewickelt.

Setzepfandt blieb in der Stadt und studierte Jura an einer gewöhnlichen Hochschule. “Für mich hat damals ein neues Leben begonnen”, sagt der Manager heute. Ein Leben, in dem er sich bestens etablierte: Im August 1999 wurde er in Dresden als Rechtsanwalt zugelassen. Dann ging es nach Moskau, er arbeitete dort zunächst für zwei namhafte Kanzleien, Beiten, Burkhardt, Mittl & Wegener sowie Lovells. Seine Stasi-Zugehörigkeit sieht er rückblickend als Fehler: “Heute würde ich anders entscheiden.”

Auslandshandelskammer bedauert den Vorfall

So einfach wird sich diese Sache aber nicht ad acta legen lassen. Die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer, mit rund 850 Mitgliedsfirmen wichtigste Anlaufstelle im bilateralen Geschäft, zeigt sich überrascht von der Verstrickung ihres Vizechefs. Auf Anfrage schreibt sie: “Wir bedauern, dass Herr Setzepfandt sich nicht im Vorfeld zu seiner Vergangenheit geäußert hat”.

Rainer Seele, Präsident der Organisation und Vorstandschef des Kasseler Öl- und Gaskonzerns Wintershall, betont, Setzepfandts Stasi-Zugehörigkeit sei ihm “persönlich in keiner Weise bekannt” gewesen. Die Kammer stelle an die Kandidaten für den Vorstand sehr hohe Anforderungen. Allerdings sehe die Satzung keine Überprüfung von Personen durch Organe der Bundesrepublik Deutschland vor, schreibt Seele weiter.

Redaktionen scheuten Prozesse nicht

Für das Verlagshaus Burda ist der Vorgang besonders heikel. Magazine wie “Focus” und “Superillu” haben mehrfach Stasi-Fälle aufgedeckt. Um die Namen der Geheimdienstmitarbeiter publik machen zu können, scheuten die Redaktionen auch langwierige Prozesse nicht. Jetzt sieht sich ein Manager im eigenen Unternehmen mit seiner Stasi-Vergangenheit konfrontiert. “Wir nehmen dieses Thema sehr ernst und führen mit Herrn Setzepfandt daher auch entsprechende Gespräche”, teilt die Münchner Zentrale mit.

Allerdings sieht der Verlag keinen Grund, die Affäre um den Redakteur Schulgin neu zu bewerten. Der Journalist hat seinen Job bei “Computerbild Russia” längst verloren. Obwohl Personalchef Setzepfandt das Ende des Arbeitsverhältnisses persönlich besiegelt hat, will Burda diese Akte nicht wieder aufmachen. In Schulgins Arbeitsbuch, einem Dokument, in dem alle beruflichen Stationen von Arbeitnehmern in Russland aufgeführt werden müssen und das der “Welt” vorliegt, prangt an der entsprechenden Stelle der Stempel des Managers: “Chef der Abteilung Arbeit mit dem Personal, A. Setzepfandt”.

Nach Darstellung von Burda ist der Verlag am 20. Februar mit dem Eintrag von Schulgin auf dessen privater Facebook-Seite konfrontiert worden. Dort habe der Angestellte allerdings angegeben, bei Burda Russland zu arbeiten. Laut Verlag ist ihm in einem Gespräch mitgeteilt worden, dass sich Burda Russland von seiner privaten Meinung distanziere. Daraufhin habe Schulgin seine Kündigung eingereicht, Druck sei nicht ausgeübt worden.

Aufforderung, das Unternehmen zu verlassen

Der Betroffene hingegen sagt, er sei von seinen Vorgesetzten zunächst gedrängt worden, öffentlich zu erklären, der Eintrag stamme nicht von ihm. Er könne ja sagen, man habe seinen Account gehackt. Er sei aber nicht bereit gewesen zu lügen, sagt Schulgin. Deshalb habe man ihm gedroht, dafür zu sorgen, dass er als “Extremist” kein Visum mehr für den europäischen Schengen-Raum erhalten werde. Das empfand der Redakteur als ultimative Aufforderung, Burda zu verlassen.

Ein weiterer Facebook-Eintrag, der ihm viel Ärger einbrachte, hat folgenden Wortlaut: “Wenn ich auf der Arbeit und in der Metro die Gespräche höre, habe ich den Eindruck, dass 99,9 Prozent der Russen gleich ein Loblied auf (den Ende Februar 2014 abgesetzten ukrainischen Präsidenten) Janukowitsch singen werden und dazu aufrufen, alle Ukrainer aufzuhängen.” Diese Einschätzung wurde im Netz diskutiert, und ein Nutzer drohte Burda Russland: “,Computerbild Russia’, in diesem Fall sucht Euch einen neuen Mitarbeiter. Wir schicken einen Brief an die Staatsanwaltschaft.”

Der Ex-Vorsitzende des russischen Journalistenverbandes, Igor Jakowenko, hat jetzt im Gespräch mit dieser Redaktion angekündigt, er werde wegen der Affäre Schulgin den Deutschen Journalisten-Verband einschalten. Mit Schulgin zusammen baue er gerade eine Interessenvertretung auf. Ihr Name: “Journalistische Solidarität”.

Der Artikel auf welt.de

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